Warnsignale waren da
Klappriger „Titan“: So primitiv ist Baumarkt-Boot
Wer setzt sich freiwillig unter Einsatz seines Lebens in einen von offizieller Seite unerprobten Titanic-„Aufzug“? Fünf Personen haben es gemacht und werden nun vermisst. Angeführt wurden sie von einem Unternehmer, der sich damit brüstet, sein Tauchboot in Teilen aus primitiven Materialien gebastelt zu haben.
Wo die Titanic schläft, überlebt fast nichts. Das Wrack des gesunkenen Luxusdampfers liegt Hunderte Kilometer vor der amerikanischen Küste im Atlantik auf 3800 Metern Meerestiefe. Es ist ein dunkler und vor allem menschenfeindlicher Ort.
Es gibt nur wenige Tauchboote auf dieser Welt, die in diese Sphären sicher vordringen können. Das nun vermisste „Titan“-Boot gehört laut Experten und ehemaligen Expeditionsteilnehmern nicht dazu. Branchenexperten haben erklärt, dass zertifizierte Tiefseeschiffe nur Stahl oder Titan verbauen, um sicherzustellen, dass ihre Rümpfe dem Druck standhalten.
„Titan“ tut das nicht, das Tauchboot hat auch Kohlefaser verbaut. Das Material gilt weithin als unerprobt: Wenn es versagt, kann es katastrophale Folgen haben.
Teile aus dem Baumarkt
Am Sonntag zwängten sich dennoch vermögende Menschen freiwillig in die knapp sieben Meter lange Kapsel, die kaum Platz für Bewegung bietet und offenbar nicht von unabhängigen Stellen überprüft wurde. Der Preis für den Trip in die Untiefen des Atlantiks: knapp 225.000 Euro pro Person.
Mittlerweile ist bekannt, dass die Tour vom Chef höchstpersönlich angeführt wird, Stockton Rush. Der Gründer von OceanGate brüstete sich in der Vergangenheit vor Journalisten, dass er das Tauchboot mit „Camping“-Teilen gebaut hat und mit einem billigen Spielcontroller bedient wird - davon gebe es aber mehrere, falls einer ausfallen sollte.
Im November 2022 erklärte Rush gegenüber CBS, dass das Do-it-yourself-Tauchboot mit „handelsüblichen Komponenten“ gebaut wurde:
In einem Video zeigt Rush - dessen Nachname übersetzt passenderweise „überstürzen“ oder „hetzen“ bedeutet - auf eine Lichtanlage im Inneren und erklärt sichtlich stolz: „Wir können diese Bauteile von der Stange verwenden. Ich habe sie von Camping World.“ Der Reporter David Pogue kam nicht umhin, zu bemerken, dass Teile des Tauchfahrzeugs „improvisiert“ aussahen. Rush versicherte aber, dass das Schiff „sicher“ sei, selbst wenn Teile nicht funktionierten. Nur unwichtige Teile seien von der Stange.
Warnungen und eine Klage
Bereits 2018 warnte die „Marine Technology Society“ in einem Brief vor potenziell „katastrophalen“ Problemen in der „Titan“-Entwicklung. Die Industriegruppe, die sich aus Meeresingenieuren, Technologen, politischen Entscheidungsträgern und Pädagogen zusammensetzt, äußerte sich „besorgt über die Entwicklung von Titan und die geplanten Titanic-Expeditionen“ und warnte vor dem „derzeitigen experimentellen Ansatz von OceanGate“.
Im selben Zeitraum trennte sich das Unternehmen gerade von seinem Direktor für „Marine Operations“, David Lochridge. Er sagte, er sei entlassen worden, nachdem er Sicherheitsbedenken bezüglich des Schiffs geäußert hatte. Lochridge klagte nach seinem Rauswurf und einigte sich später mit Rush außergerichtlich.
In einem 2019 verfasstem Blogpost erklärte Rush‘ Unternehmen, warum „Titan“ kein Klassifizierungsverfahren durchlaufen soll. OceanGate zufolge würden solche Verfahren wenig dazu beitragen, „minderwertige Schiffsbetreiber“ auszusortieren. Ohnehin seien „menschliche“ Bedienungsfehler für die überwiegende Mehrheit der Unfälle verantwortlich.
Doch der wohl größte Grund lautete: Innovationsbremse. „Eine externe Stelle über jede Innovation auf den neuesten Stand zu bringen, bevor sie in der Praxis getestet wird, ist ein Gräuel für die schnelle Innovation“, heißt es in dem Blogpost.
Rush: Jeder kann Boot bedienen
Nach den Worten von Rush kann jeder 16-Jährige sein Tauchboot bedienen. „Es soll wie ein Aufzug funktionieren“, sagte er CBS. Deshalb gebe es auch nur einen Bedienknopf im gesamten Innenraum der Kapsel. Es ist nicht klar, ob Titan seither eine Zertifizierung der Industrie erhalten hat, aber im Jahr 2022 berichtete ein CBS News-Reporter, der mit dem Schiff reisen sollte, dass die von ihm unterzeichnete Verzichtserklärung lautete: „Dieses experimentelle Schiff wurde von keiner Aufsichtsbehörde genehmigt oder zertifiziert.“
Fest steht aber auch, dass „Titan“ in internationalen Gewässern operierte und seine Dienste in einem quasi gesetzfreien Raum angeboten hat. Ehemalige Passagiere, wie Mike Reiss, berichteten, dass sie auf die potenziellen Gefahren aufmerksam gemacht wurden. Er beschrieb der BBC: „Man unterschreibt eine Verzichtserklärung, bevor man einsteigt, in der dreimal der Tod erwähnt wird.“
Laut Reiss würde das Unternehmen eben „nach und nach“ lernen. „Ich habe drei verschiedene Tauchgänge mit dieser Firma gemacht und man verliert fast immer die Kommunikation.“ Am Sonntag wurde es nach 45 Minuten still. Das Mutterschiff „Polar Prince“ konnte um 9.45 Uhr keine Kommunikation mehr herstellen. Die US-Küstenwache wurde nach eigener Aussage allerdings erst um 17.45 Uhr alarmiert - ganze acht Stunden später. Experten gehen davon aus, dass das Baumarkt-Boot zu diesem Zeitpunkt eine Tiefe von etwa 3500 Metern erreicht hatte, in der jeder Quadratzentimeter des Bauwerks einer Kraft von mehr als zwei Tonnen ausgesetzt gewesen wäre.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels verfügt die Crew noch über Sauerstoff für circa 20 Stunden - sofern sie noch lebt. Selbst wenn das Gefährt an der Oberfläche treiben sollte, kann die Mannschaft nicht aus eigener Kraft aussteigen. Das Boot wird vor dem Tauchgang von außen zugeschraubt. Anschließend muss ein Team an der Oberfläche die Luke öffnen. Ex-U-Boot-Fahrer Weber sprach von einem eisernen Sarg.
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