Experten analysieren:
Führung hat versagt, Russland könnte zerfallen
Kreml-Chef Wladimir Putin warnt vor einem Bürgerkrieg in Russland. Der Meinung schließen sich viele Experten an: Russland stehe am Rande einer Katastrophe, so der Tenor. In nur wenigen Stunden könnte Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin mit seinen Truppen in Moskau eintreffen. Sogar ein Zerfall der Russischen Föderation, des größten Landes der Welt, stehe im Raum.
In der russischen Präsidialverwaltung geht die Angst um. Bald könnten in der russischen Hauptstadt Kämpfe beginnen. Dabei sei man gestern noch davon ausgegangen, dass Prigoschin nur blufft, will das unabhängige russisch-lettische Nachrichtenportal Medusa von zwei Vertrauenspersonen des Kremls erfahren haben. Mit der Einnahme der Stadt Rostow am Don durch die Wagner-Kämpfer sei der Ernst der Lage aber klar geworden.
Selbst Kreml hat Prigoschin unterschätzt
Als Putin dann um 10 Uhr morgens in seiner Fernsehansprache Prigoschin als „Verräter“ bezeichnete, habe man verstanden, dass es keine friedliche Regelung der Situation mehr geben würde. Auch der Kreml hätte Prigoschin unterschätzt, erklären die Quellen weiter. Zwar habe man immer wieder über den Wagner-Chef gesprochen. Er sei als frecher Hochstapler wahrgenommen worden, der sich an keine Regeln halte.
Das Risiko einer militärischen Meuterei ist aber als Null eingeschätzt worden - man war davon überzeugt, dass dies nur ein Verrückter tun könne. Und Prigoschin ist wirklich komplett übergeschnappt.
Quelle aus der russischen Präsidialverwaltung
Wagner-Chef wähnt Land hinter sich
Der Chef der russischen Wagner-Söldner, Jewgeni Prigoschin, wähnt das Land hinter sich. Die russische Bevölkerung unterstütze ihn, erklärte Putins Koch in einer Audio-Botschaft. Seine Kämpfer hätten das russische Militär-Hauptquartier in der Stadt Rostow eingenommen, ohne einen einzigen Schuss abzugeben.
Laut dem österreichischen Politikwissenschaftler Gerhard Mangott könnte Putin bald ein „sehr großes Problem“ haben. Nämlich, wenn sich Teile der regulären Armee mit der Söldnertruppe solidarisieren. Sollte sich die innere Krise verschärfen, könne es auch zu einer Schwächung der russischen Verteidigungskapazität in der Ukraine kommen, so der Politikwissenschaftler. Gleichzeitig warnt er vor einem militärisch ausgetragenen Machtkampf in Russland und verweist auf 6000 nukleare Sprengköpfe.
Putins Führung hat versagt
Erfolgsentscheidend für den Vorstoß der Söldnertruppe sei vor allem die mögliche Solidarisierung der russischen Soldaten mit den Söldnern. Dafür gebe es derzeit aber noch keine Anzeichen. Prigoschin habe die Rationalität des Ukraine-Krieges, die Begründungen Putins für die Invasion, offen in Frage gestellt und sich gegen die Militärführung Russlands aufgelehnt, gab der Experte zu bedenken. Als Grund für den Machtkampf sieht Mangott die vor drei Wochen beschlossene Verordnung des russischen Verteidigungsministeriums, dass sich alle paramilitärischen Formationen dem Verteidigungsministerium unterstellen müssen.
Der Anführer der Söldnertruppe lehne dies jedoch ab. Dieser Autoritätskonflikt hat sich in den letzten Wochen zugespitzt und ist nun offen eskaliert. „Putin hat in den letzten Monaten eklatantes Führungsversagen gezeigt. Prigoschin hat wiederholt rote Linien überschritten, aber Putin hat ihn gewähren lassen und ihn nicht zurechtgestutzt“, so der Forscher.
Folgende Bilder zeigen die Wagner-Söldner auf ihrem Weg Richtung Moskau:
Russland könnte jetzt zerfallen
„Das bedeutet Bürgerkrieg in Russland und - so denke ich - eine schrittweise Beendigung des Kriegs mit der Ukraine“, kommentiert der aus St. Petersburg stammende Historiker Alexander Etkind den Aufstand des Söldnerführers Jewgeni Prigoschin. Der Professor an der Zentraleuropäischen Universität (CEU) in Wien rechnet zudem damit, dass die aktuellen Ereignisse das Ende Russlands in seiner aktuellen Form einleiten könnten.
Das ist der Zerfall der Russischen Föderation, die Befreiung seiner konstituierenden Teile von einer Moskauer Herrschaft sowie die Entstehung einer neuen rechtlichen und politischen Struktur im nördlichen Eurasien.
Alexander Etkind, Historiker
Prigoschin habe seines Erachtens nun zwei Möglichkeiten - entweder einen sehr riskanten Angriff auf Moskau oder eine weniger riskante Variante, in einigen Regionen im Süden Russlands seine Macht zu konservieren. Letzteres würde Prozesse am Kaukasus starten, zur Abspaltung Tschetscheniens führen und einen Dominoeffekt auslösen.
Alle haben sich geirrt
An eine schnelle Beendigung der Auseinandersetzung glaubte Etkind indes nicht: „Diese Variante existierte bis zum Auftritt von (Präsident Wladimir, Anm.) Putin, der alle Karten in der Hand hatte und der (Verteidigungsminister Sergej, Anm.) Schojgu zum Sündenbock hätte machen können und eine Einigung finden“, erklärte der Historiker.
Die bis Freitag dominierende Interpretation von Prigoschins Aktivitäten als vorrangig Propaganda illustriere ein weiteres Mal, dass sich alle praktisch bei der Bewertung von russischen Ereignissen geirrt hätten. „Aber heute ist offensichtlich, dass das kein Spiel ist“, sagte er.
Kämpfer der von Prigoschin geführten Söldnertruppe Wagner haben nach eigenen Angaben die Grenze nach Russland überquert und kontrollierten am Samstag einem Insider aus russischen Sicherheitskreisen zufolge die militärischen Einrichtungen der Stadt Woronesch 500 Kilometer südlich von Moskau. Das Ziel sei anscheinend die russische Hauptstadt, erklärte das britische Verteidigungsministerium.
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