„Krone“-Interview

Mary Ocher: Musik gegen Hass und Ausgrenzung

Musik
11.07.2023 09:00

Moskau, Tel Aviv, Berlin - Künstlerin Mary Ocher eröffnet ihren Hörern mittels elektronischer und folkloristisch angehauchter Musik polit- und gesellschaftskritische Textwelten. Unlängst konzertierte sie im Wiener Venster99 und sprach mit der „Krone“ über ihre Vergangenheit, politischen Aktivismus und weshalb Dankbarkeit ein wichtiger Gradmesser ist.

(Bild: kmm)

Die U-Bahnen brettern erbarmungslos über die Gürtelbögen, der Verantwortliche des Venster99 reinigt mit einem Schlauch den Eingangsbereich und die sengende Frühsommersonne vermengt sich mit dem Lärm des vierspurigen Gürtels. Als wir uns mit Mary Ocher zum gemütlichen Plausch zusammensetzen, gibt es wenig Rückzugsmöglichkeiten. Die Künstlerin mit den markanten Brillen entschuldigt sich höflich für eine leichte Verspätung, weil sie sich auf der Suche nach der abendlichen Konzertlocation leicht verlaufen hat. Ocher vermischt in ihrer Musik Elektronik, Folk, Indie-Rock und eine gewisse Portion Dadaismus mit Polit- und Gesellschaftskritik. Die 36-Jährige reüssiert nicht nur musizierend, sondern auch als avantgardistische Poetin, umtriebige Bohemienne und Aktivistin, auch wenn sie sich mit richtigen Aktivisten nicht direkt vergleichen möchte, wie sie der „Krone“ im Interview erzählt.

Etwas zurückgeben
„Aktivisten gehen in ihrer Sache so auf, dass sie dafür ins Gefängnis gehen würden. Es ist viel einfacher, sich für Dinge einzusetzen, wenn man darüber schreibt oder singt, als wirklich physisch dafür tätig zu sein.“ Ocher ist eine Aktivistin der ruhigeren Sorte. Sie behandelt weltpolitische Themen nicht nur in ihrer Kunst, sondern ist auch immer wieder auf Demonstrationen anzutreffen. Ihre Alben oder EPs tragen Namen wie „War Songs“, „The West Against The People“ oder „Power And Exclusion Of Power“. Letzteres ist eine diesen Februar veröffentlichte EP, deren Einnahmen an die Organisation „Repair Together“ gehen. Sie baut vom Krieg zerstörte Gebäude in der Ukraine wieder auf. „Die letzten Jahre waren für alle Menschen auf der Welt furchtbar. Finanziell war 2023 für mich bislang ein Desaster, aber ich möchte trotzdem helfen und etwas zurückgeben.“

Ochers Familiengeschichte ist gerade im aktuellen Politkontext mehr als besonders. Sie wurde 1986 in Moskau geboren, zog mit ihrer Familie früh ins israelische Tel Aviv und wurde als 20-Jährige schlussendlich in Berlin sesshaft. „Meine Großeltern stammen aus der Ukraine und bis 2022 war es kein Problem, jüdisch-ukrainischer Herkunft zu sein. Ich finde Nationalismus ungemein gefährlich, weil er immer dazu verwendet wird, um zu spalten. Als Kind wird dir beigebracht, dass der andere der Feind ist und man wächst in einer sehr aggressiven, gewalttätigen Umgebung auf. Man kann aber nicht vor den Problemen der Realität flüchten.“ Die in Israel verbrachten Teenager-Jahre öffneten Ocher die Augen und sie wurde sich zunehmend negativer Strömungen bewusst.

Notwendiger Tapetenwechsel
„Der hedonistische Aspekt von Tel Aviv ist mir fremd, weil ich nicht trinke, keine Drogen nehme, nicht rauche und Vegetarierin bin. Als Teenager war ich in Israel oft auf Demonstranten und dort gab es ein Gefühl von Verzweiflung. Die Medien sind meist sehr rechtsgerichtet und haben viele Storys erfunden, um Aktivisten schlecht dastehen zu lassen. Sehr viele Aktivisten und Demonstranten wurden quasi dazu gedrängt, das Land zu verlassen. Die Leute vermitteln dir stets, dass du jederzeit gehen kannst, wenn es dir nicht gefällt. Ein furchtbares Gefühl, wenn man eine andere Meinung hat und Dinge verändern möchte.“ Mit ihrer Band Mary And The Baby Cheeses zieht Ocher mit 20 nach Berlin - und bleibt. „Ursprünglich wollten wir für zwei Monate dortbleiben. Meine Bandkollegen zogen irgendwann wieder zurück nach Israel, ich wollte aber raus von dort.“

Berlin erwies sich aus künstlerischer Sicht als eine Art Eldorado für Ocher. Die Mieten waren im Europavergleich lange sehr günstig, es gibt eine vitale und experimentelle Musikszene und vor allem herrscht hier Frieden. „Berlin hat mich sehr unterstützt. Dort ging es mir von Anfang an ganz gut. Ich habe jahrelang unzählige Shows gespielt, versuchte mich als Straßenmusikerin und hatte unterschiedlichstes Publikum. Mich hat diese Zeit charakterlich geprägt und ich nehme nichts für selbstverständlich.“ In Berlin findet Mary Ocher ihre musikalische Identität und vernetzt sich. Sie performt den Titelsong für Sybille Bergs Roman „Vielen Dank für das Leben“, ist mit Hans Unstern auf Tour und erkundet für die populäre arte-Serie „Durch die Nacht mit…“ Pornostar Sasha Grey, das sexuell aufgeladene Hamburg aus einer feministischen Perspektive.

Kein Fan von Routinen
Ochers Musik ist vielseitig und sprunghaft. Sie legt sich nicht auf ein Genre fest, sondern gewährt sich die Freiheit, zu probieren und zu experimentieren. „Ein neues Instrument erlernen oder Texte aus anderen Blickwinkeln zu schreiben, das sind die Dinge, die mir Spaß machen. Ich bin kein Fan von Routinen und hinterfrage immer meine eigenen Strukturen.“ Je schwieriger die Weltlage im Allgemeinen wird, umso dankbarer ist die Künstlerin für ihr Leben und ihr Umfeld. „Ich habe viele Freunde, eine Familie, die mich unterstützt, einen tollen Partner und die Musik, mit der ich meinen Lebensunterhalt beschreiten kann. Ich habe ein Dach über dem Kopf - auch das ist alles andere als selbstverständlich. Es ist sehr egoistisch, all das für selbstverständlich zu nehmen. Es wäre ziemlich scheinheilig, wenn ich mich beschweren und dauernd jammern würde.“

In näherer Zukunft sollen gleich zwei neue Alben von Ocher erscheinen. „Das übernächste Album wird einen sehr negativen Titel tragen, den ich jetzt aber noch nicht verrate.“ Wie immer muss man bei der Wahl-Berlinerin mit dem Unerwarteten rechnen. Ihre Vorfreude ist immens. „Wie auf den letzten Alben wird es wieder eine große Vielfalt geben. Wenn etwas so klingt, als wäre es kuratiert worden, ist das für mich wesentlich spannender. Jeder Song klingt anders und das Album wird sehr vielseitig sein. Es gibt auch ein paar großartige Zusammenarbeiten mit anderen Künstlern. Es wird toll.“ Zu den weltlichen Problemen kamen unlängst persönliche - bei einem Einbruch in ihr Lager wurden ihr nicht weniger als 937 Platten gestohlen. Doch the Show must go on. Schließlich macht auch die Welt keine Pause.

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