Auf dem ersten Album seit sieben Jahren nimmt uns die Transgender-Künstlerin Anohni mit auf eine Reise durch die LGBTQ-Geschichte, den drohenden Untergang des Planeten und persönliche Erinnerungen an ein konservatives Aufwachsen. Mit viel Soul, etwas Folk und Mut zum Experimentellen gelingt der Wahl-New-Yorkerin damit eine konzeptionelle Meisterleistung.
Nicht nur im globalen Pride-Monat Juni wird an die legendären und wegweisenden Stonewall-Unruhen in New York 1969 erinnert. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Stadtpolizisten und LGBTQ-Mitgliedern gelten als tragisch und wegweisend zugleich. Mittendrin befand sich die damals stadtbekannte Drag-Queen und Homosexuellen-Aktivistin Marsha P. Johnson. Eine Ikone der Bewegung, die Andy Warhol faszinierte und im Sommer 1992 tot im New Yorker Hudson River aufgefunden wurde. Die Polizei stufte den Tod zuerst als Suizid ein, erst 2002 wurde die Einstufung auf „ungeklärt“ abgeändert. Wenige Tage vor dem tragischen Ableben Johnsons hatte der junge Punk Antony Hegarty, damals frisch in New York und im Studium für experimentelles Theater inskribiert, eine kurze Begegnung mit der queeren Ikone, die prägend sein würde.
Den Kreis geschlossen
Mehr als 30 Jahre später ziert Marsha P. Johnson das Cover von „My Back Was A Bridge For You To Cross“. Es ist das sechste Studioalbum für Anohni, wie sich Hegarty seit 2015 nennt und das erste unter dem Banner Anohni And The Johnsons. Der Name Antony And The Johnsons, wie die Band vor der Verwandlung zu Anohni hieß, war per se ein Tribut an Marsha P. Mit dem Comebackalbum der wieder zusammengetrommelten Band schließt Anohni einen Kreis in ihrer Karriere. Ihr erstes Album seit sieben Jahren ist nicht nur eine Verbeugung vor Johnson und all den tapferen Kämpfern für LGBTQ-Rechte und offene Gesellschaftsformen, es ist auch eine Abkehr von der gesellschaftspolitischen Wut, die Anohnis Solodebüt „Hopelessness“ 2016 durchzog und welche die Transgender-Künstlerin endgültig zum Superstar der queeren Indie-Szene formte.
Der Albumtitel gemahnt an die vielen Opfer, die LGBTQ-Aktivisten seit jeher machen müssen, um mit ihren Anliegen Gehör zu finden. „My Back Was A Bridge For You To Cross“ hat aber nichts mehr mit der wabernden Elektronik aus Anohnis Vergangenheit zu tun. Die mittlerweile 51-jährige Vollblutkünstlerin ist ruhiger geworden und die Reife des Alters zog in den Sound ein. Folkloristisch, mit sehr viel Soul und smoothen R&B-Zitaten durchsetzt, klingen die dargelegten Botschaften versöhnlicher und weniger offensiv, als man es aus der nicht mehr ganz so jungen Vergangenheit gewohnt war. Experimentelles findet nur hintergründig statt. Es geht um die Schönheit der Vielseitigkeit, um die Angst vor dem drohenden planetaren Kollaps und nicht zuletzt auch um die stets durchdringende Abscheu Anohnis vor der alten Heimat Großbritannien.
Misogynie-Tempel England
Geboren in Chichester, West Sussex, und bereits früh selbst als Transgender definiert, erlebte Hegarty all das Unverständnis und die fehlende Toleranz, die man Menschen in provinziellen und ruralen Gebieten gerne nachsagt. „England ist in puncto Misogynie führend auf dieser Welt“, erzählte sie in einem der wenigen Interviews zu diesem Album dem britischen „Guardian“. Als sie im Kinderzimmer erstmals Boy George hört, schießen ihr die Tränen aus den Augen. „Ich habe in diesem Moment gelernt, wie man fühlt und dass es okay ist, zu fühlen.“ Nach einem Zwischenstopp in Amsterdam zieht Anohni vor mehr als 30 Jahren in den „Big Apple“ und wird dort dauerhaft heimisch. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen mit den Themenbereichen Entfremdung, Akzeptanz, Grausamkeit, Umweltzerstörung und Feminismus finden früh Einzug in die Texte. 2003 bekommt Anohnis Karriere einen spontanen Boost.
Velvet Underground-Legende Lou Reed lernt Hegarty kennen, installiert sie als Backgroundsängerin und leitet sie bis zu seinem viel zu frühen Tod 2013 durch alle wild tobenden Gewässer der Intoleranz, die selbst in scheinbar offenen Indie-Zirkeln lange herrschte. Das auf dem neuen Album befindliche Lied „Silver Of Ice“ dreht sich um eine der letzten Unterhaltungen zwischen Anohni und Reed vor dessen Ableben und ist eine ehrliche, zutiefst herzhafte Verbeugung vor einem Menschen, der vom Versteher und Kollegen, zum Förderer und echten Freund wurde. Anohnis Weltbild und ihr gedankenvolles Gespür gegenüber gewissen Strömungen in der Gesellschaft wird auf „My Back…“ viel Platz eingeräumt. Songs wie „It Must Change“, „Can’t“ oder das zuweilen leicht austreibende „Rest“ werden nicht nur von den unterschiedlichen Oktaven Anohnis getragen, sondern auch von einem warmen Sound, für den vorwiegende Gitarrist und Produzent Jimmy Hogarth verantwortlich zeichnet.
Mut zur Unmittelbarkeit
Zu einem großen Teil haben die Musiker Anohnis allererste Vocal-Takes direkt übernommen und auf das Album produziert, um der Unmittelbarkeit, der Fragilität und der Echtheit möglichst viel Platz einzuräumen. „My Back…“ ist zuweilen auch ein Statement gegen das Schwarz-Weiß-Denken und eine musikalische Verbeugung vor der Vielseitigkeit und den Grauschattierungen in allen Bereichen des Daseins. Wie Marsha P. Johnson einst, ist nun Anohni selbst zu einem Vorbild für die LGBTQ-Bewegung geworden und führt ihren Kampf aus der Perspektive warmherziger, wohlüberlegter Kunst. Gegenwärtige Rückschläge, gesellschaftliche Borniertheit und die Sorgen bezüglich der Zukunft dieses Planeten halten sich die Waage und werden hinter einem smoothen Patina-Sound in bester 70er-Jahre-Manier geparkt. „My Back Was A Bridge For You To Cross“ ist nicht nur ein gelungenes Comeback, sondern eines der wichtigsten und gefühlsvollsten Alben dieses Jahres.
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