Ein Buch erzählt von einer Wiener Musikinstitution aus der dritten Reihe: Günther Holtschik, Plattensammler, ex-Drogensüchtiger und Inventar der Wiener Arena erzählt mit Witz und Sentiment seine Lebensgeschichte und liefert dabei eine Bestandsaufnahme einer Stadt mit, die erst spät aus dem kulturellen Dornröschenschlaf geweckt wurde.
Wer in der Hauptstadt nach einem DJ Richmond Slut sucht, wird wahrscheinlich nur schwer fündig. Bewegt man sich aber in die Kulturinstitution Arena Wien in der Baumgasse 80 und fragt nach einem Günther, dann ist die Sachlage sofort klar. Besagter Günther ist mittlerweile 69 Jahre jung, gehört zum Inventar des Arena Beisl und ist neben der geschmackssicheren Musik und des eiskalten Kozel der dritte wichtige Grund, warum man sich in seiner kargen Freizeit dort dringend aufhalten sollte. Günther ist bei weitem nicht so berühmt wie Keith Richards, David Bowie oder Paul McCartney, teilt nun aber mit allen drei die Tatsache, dass sein Leben zwischen zwei Buchdeckel gepresst wurde.
Inventar und Lexikon
Zu verdanken ist das dem Wiener Musikpromoter und Szene-Insider Andi Appel, der sich für sein Zweitwerk intensiv mit Günther Holtschik zusammen- und auseinandersetzte und dabei nicht nur eine Wiener Underground-Legende ins rechte Licht rückte, sondern im selben Aufwasch auch noch einmal in das Lebensgefühl der hauptstädtischen Kulturszene Wiens der 60er- bis 80er-Jahre zurückführt. Gegenwärtige Besucher kennen Holtschik als pensionierten Hobby-DJ und Mädchen für alles in der Arena, wer sich ein bisschen mehr Zeit nimmt, sitzt einem (rock)musikalischen Lexikon gegenüber. Die Geschichte von Holtschik ist gleichbedeutend mit der Geschichte der Wiener Subkultur und das macht dieses Werk (Resonance Verlag) auch für Leute zugänglich, die mit Günther und der Arena möglicherweise wenig anfangen.
Chronologisch, mit Mundart und noch mehr Lokalkolorit folgt man dem Protagonisten mit viel Humor, Insiderwissen und so mancher Tragik durch alle Höhen und Tiefen seines Lebens. Und fürwahr: Von beiden hat der Günther mehr erlebt als so manch anderer. Geboren und aufgewachsen in den Nachkriegswirren Wiens, befand sich der rebellische Jugendliche früh in einer Zwickmühle. Über die wenigen Möglichkeiten, in den Frühzeiten der Wiener Konzertlandschaft Gigs von den Pretty Things, den Rolling Stones und Status Quo zu sehen (oder, wie im Falle von Jimi Hendrix, nicht zu sehen) bis hin zum Kampf gegen die konservativen Älteren entwickelt sich im jungen Mann eine Rebellion, die sich in drei große Lieben niederschlägt: Rock’n’Roll, lange Haare und die Wiener Austria.
Drastische Wendung
Relativ schnell kommt auch das eine oder andere Sportzigaretterl dazu, wir befinden uns schließlich in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren. Freie Liebe, Pazifismus, Abnabelung von den Dogmen längst vergangener Tage. In Wien dauert alles ein bisschen länger, das erkennt auch Günther, der früh nach London reist, um die dortige Musikszene zu inhalieren und dabei schnell merkt, dass sich auch in puncto Haltung und Mode alles um Äonen schneller bewegt als im goldenen Herzen Österreichs. Während sich die Elterngeneration mit letzter Kraft an eine obsolete Autorität klammert, erkundet Günther das Leben in vollen Zügen. Die langhaarigen Beatles, der WDR-Rockpalast, Ö3, damals noch abseits langweiliger Mainstreamklänge und frühe Konzerte, bei denen in Wien noch Sitzpflicht galt. Aber auch: Mohn-Tees, LSD und später dann das Heroin, das Günthers bis dahin ungezwungenem Dasein eine drastische Wendung beschert.
Jahrelang kämpft „der Junkie“ (Eigendefinition Günther) mit sich und seiner Sucht. Er verliert echte Freunde und kommt zu den falschen. Er setzt seine gesamte Plattensammlung ab, um sich die nächste Spritze zu geben und scheitert zwischen Baumgartner Höhe und anderen Einrichtungen ein ums andere Mal, von der Teufelsdroge loszukommen. Parallel dazu entspinnt Appel aus der Sicht des Protagonisten eine Milieustudie, die älteren Lesern ein nostalgisches Schmunzeln ins Gesicht zaubert und jüngeren die Historie der Wiener Popkultur erstmals näherbringt. Begriffe wie Voom Voom, Camera Obscura oder Theseustempel werden geschickt mit dem persönlichen Werdegang Günthers verknüpft. Er erzählt emotional, aber niemals übersensibel von seinen wichtigen Bekanntschaften und Wegbegleiterinnen, seiner Liebe zu Katzen oder seiner zutiefst sozial-menschlichen politischen Haltung, die besonders stark von der kapitalistisch-neoliberalen Gegenwart entrückt ist. Die Grünen von damals sind nicht die Grünen von heute, wie Günther im Buch erklärt.
Moralischer Kompass Austropop
Er jobbt in Plattenläden und als Plakatierer, hilft in Werkstätten und Büros. Nach den grundsätzlichen Maßstäben eines klassischen Berufslebens, wirkt er immer ein bisschen verloren, doch der Rock’n’Roll, seine wenigen Lebensmenschen und die Gemeinschaft in der Underground-Kultur geben Günther die Art von Glück und Freude, die man mit Geld nicht kaufen kann und die auch durch dunkelste Abgründe stets zurück ins Licht führen. Oder um es mit seinen eigenen Worten zu sagen: „Wer braucht ein geregeltes Einkommen, wenn er sich die neue Monster Magnet aus dem frisch gelieferten Karton nehmen darf?“ Günthers Leidenschaft für die Stones und die Pretty Things ist allübergreifend, doch auch der Austropop und seine Milieustudien navigieren ihn wie ein moralischer Kompass durchs Leben. Novak’s Kapelle, Stefan Weber (noch vor Drahdiwaberl), Hansi Lang und Wolfgang Ambros (der, obwohl Günther nicht persönlich bekannt, ein schönes Vorwort schrieb) prägten nachhaltig.
„Günther - Giftler, Gammler, Plattensammler“ ist, wie der Titel bereits suggeriert, keine Lobhudelei einer markanten Szeneperson, sondern eine wahrhaftige Bestandsaufnahme, die auch nicht vor den besonders dunklen und tragischen Seiten der Vergangenheit zurückschreckt. Etwa in dem Günther offen darüber redet, wie er bis zu seinem Lebensende das Substitut Methadon zu sich nehmen wird, um nicht erneut Heroin-rückfällig zu werden. So wird auch das kulturell bis in die späten 80er-Jahre brachliegende Wien nicht verklärt, sondern in seiner jahrelangen Ignoranz und Kulturdürre ehrlich ins Jetzt gespiegelt. Günther als auch seine Heimat Wien sind einzigartige Charaktere. Marksteine gegen die zunehmende Gleichförmigkeit einer globalisierten Gesellschaft. Die Liebe zur Freiheit ist der Geruch, der nach dem Genuss des Buches am längsten haften bleibt. Diesen Geruch gilt es dringend zu erhalten und zu pflegen. Und den eines Sportzigaretterls, die wie wenig anderes für große Freiheit und kleine Rebellion steht.
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