Was wäre, wenn ...

Spielt Nuklear-Katastrophe Putin in die Hände?

Ausland
06.07.2023 06:00

Kiew beschuldigt Moskau, Europas größtes Atomkraftwerk vermint zu haben. Die Experten der Internationalen Atomenergiebehörde können das (noch) nicht ausschließen. Verschiebt Wladimir Putin mit einer möglichen Sprengung erneut die Grenzen des Denkbaren? Die „Krone“ beantwortet drei drängende Fragen.

Im vergangenen Jahr warnte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow, dass russische Besatzer den Kachowka-Staudamm vermint hätten. Schnell wurde nach der Sinnhaftigkeit eines solchen Selbstmord-Kommandos gefragt. Die Antwort damals: wenig bis gar kein Sinn. Die Kollateralschäden wären zu groß.

Am 6. Juni fielen Teile der Dammmauer dann tatsächlich in sich zusammen. Erste Untersuchungen deuten auf eine kontrollierte Sprengung russischer Streitkräfte hin. Seither wurden mehrere Ökosysteme überschwemmt und zerstört. Menschliche Überreste wurden auf Friedhöfen an die Oberfläche gedrückt und riesige Landstriche durch weitere Kontaminierungen verseucht.

Doch die viel wichtigere Nachricht für den Kreml: Die ukrainische Gegenoffensive im Süden des Landes wurde deutlich erschwert und die Rufe nach „Frieden“ werden wieder lauter.

Jetzt warnen Budanow und Wolodymyr Selenskyj erneut vor Minen und „sprengstoffähnlichen Gegenständen“. Dieses Mal auf den Dächern der Reaktoren drei und vier vom größten Atomkraftwerk Europas in Saporischschja. Und wieder lautet die Frage: Was hätte ein aktives Herbeiführen einer Katastrophe für einen Sinn?

Wer kontrolliert das AKW Saporischschja?
Das Kraftwerk befindet sich im Frontgebiet nahe der Stadt Enerhodar und wird seit März 2022 von russischen Besatzern kontrolliert. Das AKW wird aber überwiegend von ukrainischem Personal betrieben. Anfangs wurden die Mitarbeiter unter „vorgehaltener Waffe“ zur Arbeit gezwungen, berichtete damals der Chef des ukrainischen Kernkraftbetreibers Energoatom.

Um die Sicherheit zu gewährleisten, hält sich seit September 2022 eine kleine Delegation der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) am Gelände auf. Rafael Grossi, Chef der IAEA, kritisierte zuletzt aber, dass sein Team und er keinen vollständigen Zugang zum Areal erhalten würden.

Grossi bestätigte zudem Mitte Juni, dass die Behörde von Sprengsätzen außerhalb des AKW-Geländes seit Längerem wisse – zur Verteidigung, ließen russische Besatzer mitteilen. Im Inneren, insbesondere in der Nähe des Kühlteichs, seien bisher keinen Minen festgestellt worden. Die Dächer der Reaktoren haben die IAEA-Experten nach eigener Aussage bis dato nicht inspizieren dürfen.

Was würde im Fall einer Explosion passieren?
Wie genau sich eine nukleare Katastrophe in Saporischschja auswirken würde, ist nur sehr schwer vorherzusagen. Die Tatsache, dass die Reaktoren schon seit Monaten keinen Strom mehr produzieren, sollte aber zumindest das Ausmaß eines solchen Vorfalls begrenzen.

Nach einer Detonation der gemeldeten Sprengsätze würde dies „einen kalten Reaktor öffnen, wodurch abgebrannte Brennelemente in die Luft gelangen und eine gewisse Strahlung verbreiten“, so William Alberque, Direktor für Strategie, Technologie und Rüstungskontrolle am International Institute for Strategy Studies, gegenüber CNN.

Cheryl Rofer, eine Atomexpertin und ehemalige Forscherin, beschrieb zuletzt in einem Blogbeitrag, dass die sechs Reaktoren in Saporischschja nicht mit dem Reaktor in Tschernobyl vergleichbar wären. „Die Reaktoren des AKW haben einen harten Oxidbrennstoff, der mit Metall ummantelt ist und sich in einem Behälter aus rostfreiem Stahl befindet. Tschernobyl hatte keinen solchen Behälter.“

Auch Clemens Walther, Leiter des Instituts für Radioökologie und Strahlenschutz an der Universität Hannover, erklärte jüngst dem „Spiegel“, dass selbst eine Kernschmelze nicht zwangsläufig zu einer europaweiten Nuklear-Katastrophe führen müsste: „Normalerweise würde der geschmolzene Kern in den großen betonierten Keller des Gebäudes fließen, Radioaktivität würde dann kaum nach außen dringen.“

Die Ukraine ließ in der Nähe des AKWs zuletzt Notfallübungen durchführen. (Bild: AP)
Die Ukraine ließ in der Nähe des AKWs zuletzt Notfallübungen durchführen.

Alberque zufolge wäre das Ausmaß mit der Nuklear-Katastrophe von Three Mile Island in Pennsylvania im Jahr 1979 vergleichbar. Laut US-Regierungsangaben wurden damals 636.000 Menschen in einem Umkreis von rund 25 Kilometern um den Reaktor mit geringen Dosen Radioaktivität verseucht. Doch wie eingangs erwähnt, ist ein solcher Ablauf für die Ukraine alles andere als gewiss.

Hätte eine Nuklear-Katastrophe Vorteile für Russland?
Jein. Es gilt als gesichert, dass auch die russische Bevölkerung in der Nähe des Kraftwerks Schaden nehmen würde. Zudem ist es unklar, welche militärstrategischen Vorteile Russland aus der Sprengung eines Reaktors ziehen könnte. Die Sabotage hätte wohl auch diplomatische Folgen.

Die „Financial Times“ berichtete, dass der chinesische Präsident Xi Jinping Wladimir Putin höchstpersönlich vor dem Einsatz von Atomwaffen jeglicher Art in der Ukraine gewarnt hat. Dabei beruft sich die Zeitung auf westliche wie chinesische Beamte. Der Kreml bezeichnete den Bericht als „Fiktion“.

Selenskyj argumentierte immer wieder damit, dass Putin mit einer drohenden Nuklear-Katastrophe Druck auf westliche Verbündete aufbauen würde, um die Ukraine dazu zu bewegen, den Konflikt zu beenden (siehe Tweet unten).

Fest steht, dass Putin und seine Handlanger immer wieder unter Beweis gestellt haben, dass ihnen menschliches (Über-)Leben nicht viel wert ist. Sollte es tatsächlich zu einer Katastrophe kommen, könnten Rufe nach „Frieden“, und damit nach einer Anerkennung gewaltsam verschobener Landesgrenzen, lauter werden.

Es ist nur schwer vorstellbar, dass Putin sein wohl bedeutsamstes Mittel der Erpressung aufgeben wird. Die Sprengung des Kachowka-Staudamms wurde allerdings auch als Hirngespinst kleingeredet - so wie vieles anderes davor.

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