Nach 500 Tagen Krieg
Streubomben stehen für neue Phase der Brutalität
Die USA liefern der Ukraine ein neues Level an Brutalität in Form von Streumunition. Die Entscheidung markiert eine Radikalisierung der US-Unterstützung - und steht symbolisch für einen Punkt, der letztlich über das Schicksal dieses Krieges entscheiden könnte.
Seit 500 grauenvollen Tagen verteidigt die Ukraine ihre Landesgrenzen gegen die russischen Invasoren. Seit 500 Tagen schlägt sich David gegen Goliath mehr als wacker. Seit 500 Tagen werden die Probleme der Ukrainer dennoch nicht kleiner. Ein Ende des Krieges scheint nicht in Sicht.
Nun soll eine Waffe, die gefürchtet und international geächtet ist, den Durchbruch bringen. Die US-Regierung hat den Forderungen von Wolodymyr Selenskyj nachgegeben und sich bereit erklärt, Streumunition zu liefern. Als Teil eines 800 Millionen Dollar umfassenden Militär-Pakets.
Experten: Neue Sphären der Brutalität
Die Entscheidung ist kontrovers. Humanitäre Hilfsorganisation und Militärexperten sind sich einig, dass die Brutalität dieses Krieges in neue Sphären vorstoßen wird, selbst wenn Russland bereits aktiv auf die Waffe zurückgreift.
Wie delikat die Zustimmung von US-Präsident Joe Biden ist, der die Streubomben-Lieferung als „nicht dauerhaft“ beschreibt, zeigt ein Zitat von NATO-Chef Jens Stoltenberg aus dem Jahr 2022. Er beschrieb die Waffe damals so: „Das ist brutal, das ist unmenschlich, und es ist ein Verstoß gegen internationales Recht.“
Was gestern war, ist heute anders
Auch Linda Thomas-Greenfield, Amerikas Stimme bei den Vereinten Nationen, wählte zu Kriegsbeginn ihre Worte mit Bedacht. „Wir haben Videos gesehen, in denen russische Streitkräfte außergewöhnlich tödliche Waffen in die Ukraine bringen, die auf dem Schlachtfeld nichts zu suchen haben“, sagte sie vergangenes Jahr vor der Generalversammlung. „Dazu gehören Streumunition und Vakuumbomben, die nach den Genfer Konventionen verboten sind.“
Heute liest sich das anders: Ihre Rede kann auf der offiziellen Website der US-Vertretung bei der UNO nachgelesen werden. In dem Manuskript sind die Worte „die auf dem Schlachtfeld nichts zu suchen haben“ durchgestrichen, und das Wort „verboten“ ist mit einem Sternchen versehen. Das Zurechtrücken vergangener Standpunkte steht symbolisch für die 180-Grad-Drehung der USA. Zur Erinnerung: Vor wenigen Monaten weigerte sich die US-Regierung noch, der Ukraine den Kampfpanzer Abrams bereitzustellen.
Bidens Sicherheitsberater, Jake Sullivan, versicherte am Freitag im Weißen Haus: „Es ist eine schwierige Entscheidung. Es ist eine Entscheidung, die wir aufgeschoben haben. Es ist eine Entscheidung, die einen wirklich harten Blick auf den potenziellen Schaden für die Zivilbevölkerung erforderte.“
Viele zivile Opfer befürchtet
Der Munitionstyp wird kritisiert, weil die Waffe mit jeder abgefeuerten Salve verhältnismäßig viele Blindgänger produziert, die später in den Händen oder unter den Füßen von Zivilisten detonieren. Häufig von Kindern. Streumunition wirkt besonders gut gegen „weiche Ziele“, wie es im Militärsprech heißt.
Mit den bereits in der Ukraine vorhandenen Waffensystemen ließen sich mit einer Salve Streumunition bis zu 8000 Bomblets über eine Fläche von etwa 50 Fußballfeldern verteilen, berichtet die auf Blindgänger und explosive Kriegsreste spezialisierte Hilfsorganisation Handicap International.
Definition Streumunition
Als Streumunition werden Raketen und Bomben bezeichnet, die in der Luft über dem Ziel bersten und viele kleine Sprengkörper - sogenannte Bomblets - verstreuen oder freigeben. Die Waffe deckt daher ein deutlich größeres Gebiet als herkömmliche Artilleriegeschosse ab.
Das Pentagon versicherte, dass die Rate der Blindgänger in der gelieferten Munition niedrig sei. Angegeben werden 2,35 Prozent - im Vergleich zu 30 bis 40 Prozent bei russischen Granaten und Bomben. Eine Studie wollte das US-Verteidigungsministerium dazu aber nicht vorlegen. Dem Recherchedienst des Kongresses zufolge beziffern Hersteller die Fehlerrate auf 3 bis 5 Prozent, Minenräumer schätzen sie auf 10 bis an die 30 Prozent, berichtet die „Süddeutsche Zeitung“.
Streubomben gegen Munitionsproblem?
Die Streugeschosse sollen dabei helfen, die Russen, die sich in den vergangenen Monaten an der gesamten Front eingegraben haben, aus ihren Verteidigungsanlagen zu bomben. Bidens Entscheidung deutet in ihrer Radikalität zudem darauf hin, dass in Washington die Sorge umgeht, dass Putin die Ukraine auf lange Sicht doch zermürben könnte.
Selenskyjs Truppen haben seit geraumer Zeit mit Munitionsproblemen zu kämpfen. Vor allem die 155-Millimeter-Artilleriegranaten bereiten Kopfzerbrechen. Die ukrainische Armee feuert - die Schätzungen variieren hier - täglich 4000 bis 7000 Granaten dieses Typs ab. Zum Vergleich: Die USA produzieren davon offiziellen Angaben zufolge nur 14.000 Stück - pro Monat.
Biden bekräftigte in einem CNN-Interview: „Dies ist ein Krieg, der mit Munition zu tun hat. Und die Munition geht ihnen aus, und wir haben nur noch wenig davon.“ So die Argumentation für die brutale Streubomben-„Überbrückung“. Der Faktor Zeit entwickelt sich für die US-Regierung zur größten Herausforderung, denn die innenpolitischen Mehrheiten zur Unterstützung der Ukraine fußen auf einem bröckelnden Fundament.
Bidens Wettlauf gegen die Zeit
Im nächsten Jahr steht Bidens Amt wieder zur Wahl. Seine Präsidentschaft hat durch den verpatzten Rückzug aus Afghanistan schon früh Schaden genommen, wird aber nun mitunter vom Erfolg oder Misserfolg in der Ukraine geprägt werden.
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Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Republikaner bei der Präsidentschaftswahl durchsetzen. Innerhalb der „Grand Old Party“ haben sich in den vergangenen Jahren ultrarechte Mehrheiten gebildet. Unter Donald Trumps Regentschaft hat sich das Russland-Bild deutlich verändert. Viele Republikaner sind nicht mehr bereit, die Ukraine zu unterstützen.
Auch außenpolitisch machen sich die Vereinigten Staaten angreifbar, indem sie international geächtete Munition in Umlauf bringen. Mehr als 100 Nationen - darunter fast alle US-Partner - haben ein Abkommen gegen den Einsatz von Streumunition unterschrieben.
Leon Panetta, ehemaliger CIA-Chef und Ex-US-Verteidigungsminister, sagte dem britischen „Guardian“: „Wir haben einen Punkt in diesem Krieg erreicht, an dem Joe Biden und auch die Verbündeten sehr genau darauf achten, ob dies ein Moment ist, der letztlich über das Schicksal dieses Krieges entscheiden kann.“ Der US-Präsident wird beim NATO-Gipfel nächste Woche in Litauen wohl einige Fragen beantworten müssen.
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