Fast 60.000 Fans versammelte Englands Pop-Superstar Harry Styles bei seiner ersten und einzigen Stadionshow in Wien. Die Hardcore-Fans bezogen am Gelände bereits am Dienstag Stellung und groovten sich auf ihren großen Helden ein. Der lieferte eine inklusive, gemeinschaftliche und zutiefst liebevolle Pop-Show für alle ab.
Was haben Sie am Dienstagmorgen gemacht? Gab es zum Frühstück Eierspeis, das erste Büro-Meeting oder haben Sie vielleicht einen sommerlichen Urlaubstag dazu genützt, um eine Runde durch den Wienerwald zu drehen? Die beiden Harry-Styles-Hardcore-Fans Anna und Sophie hatten anderes im Sinne und haben es sich an besagtem Tag um 8 Uhr vor dem Wiener Ernst-Happel-Stadion gemütlich gemacht - ganze 109 Stunden, bevor der Superstar um Punkt 21 Uhr ebenjene Bühne enterte und rund 60.000 Fans in der randvollen Location zum Kreischen brachte. Die beiden Wienerinnen waren schon vor knapp einem Jahr bei Styles‘ Österreich-Premiere in der Wiener Stadthalle mittendrin statt nur dabei, doch damals war im Vorfeld erheblich weniger los als jetzt.
Beide Augen zugedrückt
Als wir Donnerstagabend eine Runde über das Gelände zogen, haben etwa 100 Fans dort ihr temporäres Zeltquartier bezogen. Dass Wildcampen in Wien eigentlich nicht erlaubt ist, ist den Anwesenden bekannt, doch auch Polizei und Securitys drückten für die begeisterten Jungfans beide Augen zu. In Wien und Umgebung beheimatete Harry-Fans fuhren dazwischen immer wieder nach Hause, um zu essen oder zu duschen, für alle anderen gab es WCs und Waschanlagen im nahen Stadioncenter.
Die unterschiedlichen Sprachen und Dialekte ließen ohnehin darauf schließen, dass die vor allem weiblichen Anhänger (gefühlt 99 Prozent der Anwesenden) nicht nur querbeet aus Österreich, sondern aus aller Herren Länder vorab anreisten, um im Stadion die möglichst besten Plätze für ihr Idol zu bekommen. Für so manch andere gab es kurzfristig „No Stage View“-Karten um wohlfeile 100 Euro. Eigentlich eine Frechheit.
Die Platzwahl ging nicht so vonstatten, wie man es bei Großkonzerten gewohnt ist (first come, first serve), sondern wurde mittels eines ausgeklügelten Systems verwaltet. Das offizielle Anstellen begann am Konzerttag um 8 Uhr, für alle vorab Campierenden gab es Wartenummern für die Schlange. Offizielle Nummerierungen teilten die Wartenden in Blöcke zu je 50 Leuten, wer gegen die von einem Styles-Fanclub koordinierten Regeln verstieß, wurde beinhart zurück gereiht.
Taylor Swift mag für das Jahr 2024 drei Happel-Konzerte füllen, der Hype um ihr männliches Pop-Pendant Styles ist aber um nichts geringer. Beeindruckend ist nicht nur die Ehrerbietung, die die zumeist im Teenager-Alter befindlichen Fans ihrem Helden zollen, sondern auch ihr tadelloses Benehmen. Die gewünschte Ordnung wurde eingehalten, rundum verteilte Müllrückstände blieben aus. Daran können sich so manch ältere Generationen ein Beispiel nehmen.
Indie-Pop mit Mainstream-Appeal
Bevor Styles unter tosendem Applaus und ohrenbetäubendem Gekreische in einer Puscheljacke die Bühne entert, zeigten die britischen Senkrechtstarter Weg Leg, wie man Indie-Pop und Mainstream-Sounds gegenwärtig zu einem allumfassenden Erfolgsgebräu verbindet. Das Freundinnen-Duo Rhian Teasdale und Hester Chambers von der Isle Of Wight startete vor zwei Jahren erst mit der Single „Chaise Longue“ und dann mit dem Debütalbum „Wet Leg“ bahnbrechend durch.
Platz eins in den englischen Albumcharts, zwei BRIT-Awards, eine Grammy- und zahlreiche weitere Nominierungen und ein memorabler Auftritt in der britischen Kultsendung „Later With Jools Holland“. „Wet Dream“, „Supermarket“, „Piece Of Shit“ oder „Angelica“ überzeugen auch auf der großen Bühne. Alternativer Pop für die Generation Z, mit viel Spaß und Schwung. Besser kann man die Styles-Fans nicht vorheizen.
Styles selbst ist nicht nur mit seinem Liedmaterial der Superstar der Stunde, sondern spiegelt die Sehnsüchte und Ansichten seiner jungen Fans vor allem in seiner Haltung wider. Seine Shows sind - ganz im Gegensatz zum Rammstein-Chaos der letzten Woche - ein Safe Space für alle Beteiligten, er preist die Werte der LGBTQ und steht allumfassend für Gleichberechtigung, Liebe und Zusammenhalt. Inhaltlich ist die Show dieses „Love On Tour“-Spektakels stark dem letztjährigen Stadthallen-Auftritt nachempfunden, was die Fans natürlich nicht stört.
Dass er mit „Stockholm Syndrome“ und dem mit kreischendem Jubel begleiteten „What Makes You Beautiful“ auch zweimal in seine Boygroup-Vergangenheit zu One Direction zurückgreift, goutieren vor allem die - ja! - älteren Besucher dieses Abends. Alle anderen bejubeln die zahlreichen Hits seines Mega-Albums „Harry’s House“, das in fast 60 verschiedenen Ländern an die Spitze der Charts glitt.
Rock ’n’ Roll ist woanders
Während bei den Fans unentwegt die Handy-Lichter hochragen, werden auf Styles‘ mehrteiligem Screen Zeichentrick-Videos mit Vögeln, Walen und bunten Häusern eingespielt. Harry selbst fliegt nicht wie P!nk durchs Stadion, sondern unterhält sein Publikum mit Charme und liebevollen Botschaften. „Wholesome“, würde man das im Anglizismus-Neusprech nennen.
Die Konzertmomente bewegen sich zwischen treibend und flott („Music For A Sushi Restaurant“), poppig-allumfassend („As It Was“, „Watermelon Sugar“), balladesk („Matilda“) und inhaltlich umarmend („Treat People With Kindness“). Dazwischen wendet er sich immer wieder ans Publikum, um sich zu versichern, dass es allen gut geht. Regenbogen-Fahnen, Zuspruch, Unterstützung - die Kantigkeit einer Rock-’n’-Roll-Show findet man bei Styles noch nicht einmal mit der Lupe.
Der optisch wandelbare Superstar wählt für die Wien-Show ein glitzergrünes Grinch-Kostüm, lässt den Grant der Originalfigur aber zum Glück daheim. Nach gut zwei Jahren auf Tour merkt man dem sympathischen Umarmer aber auch eine gewisse Müdigkeit an. Den völlig begeisterten Fans ist es freilich egal, der allerletzte Funke mag - im Gegensatz zum Stadthallen-Gig vom Vorjahr - nicht so ganz überspringen. In den Zwischentönen ist er aber voll da. Wenn er etwa der den Tränen nahen Vicky tatkräftig beim Coming-out hilft, sich in geschlechtliche Sorgen einer Schweizer Besucherin fühlt und mit Wikipedia-Wissen glänzt („In Wien wurde die Schneekugel erfunden“). Feuersalven oder Effekte sind Mangel, dafür glänzt seine famose Band - etwa mit einem wunderbaren Bläser-Einsatz bei „Late Night Talking“.
So ist der Abend mit Styles in erster Linie eine zur Messe gewordene Botschaft für Toleranz, Respekt und Akzeptanz und in erst im weiteren Verlauf eine Hit-Parade, bei der die treuen Fans jede Nummer inbrünstig mitsingen können. Die große Pop-Revolution entfacht Styles mit seinen zugänglichen Songs nicht, doch es geht ihm auch sicht- und spürbar weniger um eine musikalische, denn um eine zwischenmenschliche Revolution.
Wie kein Zweiter steht der 29-Jährige für ein Männlichkeitsbild, das von toxischen Gerüchen so weit entfernt ist, wie das ihn hier beherbergende Happel-Stadion von einer zeitgemäßen Konzertlocation. Er vereint in einzigartiger Weise Geschlechter, Nationalitäten und verschiedenste Altersgruppen zu einer großen, euphorischen Masse an Glückseligkeit. In prekären Zeiten wie diesen ist ein solcher Safe Space wirklich gut zu gebrauchen.
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