Sein großer NATO-Preis

Erpresser oder Vifzack? Was Erdogan überzeugte

Ausland
11.07.2023 18:29

Recep Tayyip Erdogan hat sich noch vor Beginn des NATO-Gipfels als Sieger fühlen dürfen. Seine aberwitzige Forderung nach EU-Beitrittsgesprächen für die Türkei im Gegenzug für Schwedens Aufnahme zum Militärbündnis hat dem starken Mann vom Bosporus viele Türen geöffnet - inklusive eines lange ersehnten Rüstungsdeals. Eine Analyse.

Recep Tayyip Erdogan hat es schon wieder getan. Der türkische Machthaber füllte die Schlagzeilen vor einem internationalen Gipfeltreffen. Völlig abgebrüht verknüpfte der 69-Jährige zwei auf dem Papier völlig voneinander unabhängige Prozesse. Schwedens Weg in die NATO führe nur über EU-Beitrittsgespräche für die Türkei, ließ er vor dem Spitzentreffen des Militärbündnisses in Litauen stoisch mitteilen.

Wohl wissend, dass seine Forderung völlig unrealistisch ist. Dennoch: Vom litauischen Vilnius bis nach Washington D.C. verabschiedeten sich Kinnladen Richtung Boden. Vom „Erpresser“ Erdogan war empört die Rede. Kritiker schimpften, dass der Türke Wladimir Putin in die Hände spielen würde. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, Michael Roth, meuterte wenig stilsicher: „Der NATO-Gipfel ist doch kein türkischer Basar!“

Erdogan hat gut lachen (Bild: AFP)
Erdogan hat gut lachen

Erdogan spielte das in die Karten. Routiniert bezeichnete er die Ukraine als „bereit“ für die NATO-Aufnahme. Und zwar sofort. Während Schweden, das im Gegensatz zur Ukraine in keinen Krieg verwickelt ist, noch mehr gegen „Terrorismus“ tun müsse, um sich zu qualifizieren. Und wieder: große Empörung!

Das Schachspiel von Erdogan
Doch was verbirgt sich hinter Erdogans Absurditäten und was wurde ihm versprochen? Der türkische Präsident nutzt den NATO-Gipfel offenkundig als Plattform, um nationale Agenden voranzutreiben.

Was hat dieser Handschlag gekostet? (Bild: AP)
Was hat dieser Handschlag gekostet?

Und das mit Erfolg. Denn noch vor Gipfelbeginn schüttelten sich die Streithähne Schweden und Türkei die Hände. NATO-Chef Jens Stoltenberg sprach von einem „historischen“ Tag und der „Erpresser“ gab seine Blockadehaltung verblüffend schnell auf. Erdogan will Schwedens Aufnahme in Kürze vom türkischen Parlament ratifizieren lassen. Der Kriegs-Kommentator und Russland-Experte Gerhard Mangott twitterte: „Es bleibt noch abzuwarten, wer welchen hohen Preis dafür zu zahlen hat, dass Erdogan nun dem Beitritt Schwedens zur NATO zugestimmt hat.“

Nun ja, der robuste Verhandler Erdogan dürfte genau das gemacht haben: verhandeln. Mit Zugeständnissen aus der EU, Schweden und den USA. Erdogans größtes Anliegen wurde öffentlich nie groß von den Verhandlungsparteien thematisiert. Dabei geht es nicht um Schwedens „Terrorismusbekämpfung“, sondern vorrangig um den Kauf von US-amerikanischen Kampfjets.

Zitat Icon

Ich bin bereit, mit Präsident Erdogan und [der Türkei] zusammenzuarbeiten, um die Verteidigung und Abschreckung im euro-atlantischen Raum zu stärken.

(Bild: AP Photo/Susan Walsh, File)

US-Präsident Joe Biden

Die Türkei hat 2017 einen strategischen Fehler begangen, als sie S-400-Raketensysteme von Russland kaufte, nur um dann mit US-Sanktionen belegt zu werden. Jetzt, da Ankara seine Luftwaffenflotte dringend modernisieren muss, hat es einen formellen Antrag auf den Kauf neuer F-16 und die Aufrüstung von 80 Flugzeugen aus dem vorhandenen Bestand gestellt. Doch genau das hat der US-Kongress bisher blockiert.

Bekommt Erdogan seinen Jet-Deal?
Für viele Politiker in Washington D.C. ist die Türkei ein „untreuer Verbündeter“. Die Gangart gegenüber Staaten wie Syrien und Griechenland bereiten ebenfalls Sorge. Dennoch dürfte Erdogan erreicht haben, was er wollte. Nach Bekanntwerden des grünen Lichts für Schweden, ließ der US-Präsident Joe Biden mitteilen: „Ich bin bereit, mit Präsident Erdogan und [der Türkei] zusammenzuarbeiten, um die Verteidigung und Abschreckung im euro-atlantischen Raum zu stärken.“

Das türkische Außenministerium war weniger kryptisch: Die USA würden die Lieferung von F-16 Kampfjets nun unterstützen und Ankaras Bestreben, der EU beizutreten, gutheißen. Bidens Sicherheitsberater, Jake Sullivan, bestätigte das. Bei einer gewissen Denksportart würde man nun vom „Schach“ sprechen, ob das „Matt“ folgt, bleibt abzuwarten.

Erdogan durfte sich über weitere Zugeständnisse freuen. Als Teil der Ankündigung erklärte sich Schweden bereit, die Erweiterung der Freihandelsvereinbarung der EU mit der Türkei zu unterstützen. Erdogans Drohungen wurden auch in den höchsten EU-Kreisen wahrgenommen. Ratspräsident Charles Michel wurde den Beratungen zugezogen. 

Michel erklärte nach der Einigung: „Wir haben die Möglichkeiten ausgelotet, um die europäisch-türkische Zusammenarbeit wieder in den Vordergrund zu rücken und unsere Beziehungen neu zu beleben.“ Schweden schloss mit der Türkei gar einen „Sicherheitspakt“, um gegen Mitglieder der von Erdogan verhassten kurdischen Arbeiterpartei PKK vorzugehen. NATO-Chef Stoltenberg will darüber hinaus bei der Militärallianz erstmals einen Sonderbeauftragten zum Kampf gegen den Terrorismus einsetzen.

Feilschen um die Sicherheit Europas
Bei jedem Gipfel kommt irgendwann ein Geben und Nehmen in Gang. Dieses Mal eben vor dem eigentlichen Beginn des Zusammentreffens. Dass sachfremde Themen miteinander vermischt werden, liegt in der politischen Natur der Sache. 

Ob Erdogan sein Versprechen hält, wird die nahe Zukunft zeigen. Doch sein kalkulierter EU-Poker hat sich für alle Seiten ausgezahlt: Schweden kommt mit ziemlicher Sicherheit in die NATO, die USA schließen voraussichtlich einen milliardenschweren Rüstungsdeal ab, Stoltenberg wird als Verhandlungsgenie gepriesen und Erdogan kann sich in der Heimat feiern lassen. Edelmut und Selbstlosigkeit haben in der Weltpolitik selten einen Platz, das beweist der „Basar“ von Vilnius, wo Angebot und Nachfrage die Sicherheitspolitik eines Kontinents bestimmen.

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