Wenn Russland angreift
NATO plant Ernstfall: „Dann muss es schnell gehen“
Ein Angriff Russlands gegen das Baltikum oder Polen? Was viele Jahre lang als unrealistisch galt, beschäftigt seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine wieder Militärstrategen der größten Verteidigungsallianz der Welt. Beim NATO-Gipfel in Litauen bestätigten jetzt die Staats- und Regierungschefs geheime Pläne für den Fall der Fälle.
Auf mehr als 4400 Seiten wird dort festgelegt, wie kritische Orte im Bündnisgebiet geschützt und im Ernstfall verteidigt werden sollen. „Die Verbündeten haben die umfassendsten Verteidigungspläne seit dem Ende des Kalten Kriegs gebilligt“, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Vilnius.
In ihrer Gipfelerklärung beschreiben die Staats- und Regierungschefs die aktuelle Lage in düsteren Worten. „Der Frieden im euroatlantischen Raum wurde zunichtegemacht“, heißt es dort. Russland habe mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine gegen die Normen und Grundsätze verstoßen, die zu einer stabilen und vorhersehbaren europäischen Sicherheitsordnung beigetragen hätten und sei nun „die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für den Frieden und die Stabilität im euroatlantischen Raum“.
Erinnerungen an Kalten Krieg
Mit den Plänen schlagen die NATO-Staaten als Reaktion nun ein altes Kapitel neu auf. Denn sie entsprechen nach Angaben von Militärs in Grundzügen den Dokumenten, die es in der Zeit des Kalten Kriegs gab. Definiert wird nun, welche militärischen Fähigkeiten zur Abschreckung und Abwehr von Angriffen notwendig sind. Neben Land-, Luft- und Seestreitkräften sind auch Cyber- und Weltraumfähigkeiten eingeschlossen.
Jedes NATO-Mitglied weiß, was es zu tun hat und in welcher Situation es gefordert ist.
Boris Pistorius
Bild: APA/AFP/ANDRE PAIN
Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius sagt in Vilnius, die Maßnahmen für mehr Abschreckung und Verteidigung seien einzigartig „seit Beginn des Kalten Krieges in jeder Beziehung“. Der SPD-Politiker nennt eine Zuordnung von Regionen zu den einzelnen Bündnispartnern, Planungen für die eingesetzten Militäreinheiten und zudem auch ein „Alarmierungsmodell“. Dieses beschreibe, wann der NATO-Oberbefehlshaber in Europa (Saceur) NATO-Truppen zum Einsatz anfordern könne und welche Beiträge von den Mitgliedsstaaten dann zu leisten seien.
Deutschland als Drehscheibe
„Jedes NATO-Mitglied weiß, was es zu tun hat und in welcher Situation es gefordert ist“, sagt Pistorius dazu. Auf Deutschland komme eine „Schlüsselrolle“ zu, denn es sei von der geografischen Lage her die logistische Drehscheibe in Europa. „Alles, was von West nach Ost geht, muss durch Deutschland“, erklärte er. „Wenn der Ernstfall da ist oder zu erwarten ist, dann muss es schnell gehen. Dann müssen die Verlegungen schnell und zuverlässig funktionieren.“
Umgesetzt werden sollen die Pläne unter anderem mit Hilfe einer neuen Streitkräftestruktur. Bereits bekannt war, dass dafür künftig 300.000 Soldaten für mögliche NATO-Einsätze in hoher Bereitschaft gehalten werden sollten. Bisher war bei der NATO für schnelle Kriseneinsätze vor allem die Eingreiftruppe NRF vorgesehen. Für diese stellen die Mitgliedstaaten derzeit rund 40.000 Soldaten.
NATO wird in drei Territorien eingeteilt
Die neuen Planungen sehen vor, dass die Verbände in der Regel in ihren jeweiligen Heimatländern stationiert bleiben, aber bestimmten Ländern und Territorien zugewiesen werden - zum Beispiel an der NATO-Ostflanke. Wenn nötig, werden die Kräfte in ihr jeweiliges Gebiet verlegt, um dort für dessen Schutz zu sorgen. In besonders gefährdeten Regionen ist zudem deutlich mehr Abschreckung durch ständige Präsenz geplant. Deshalb will Deutschland auch rund 4000 Soldaten dauerhaft in Litauen stationieren.
Die NATO-Territorien
Geografisch wird das NATO-Gebiet für die Planungen in drei Regionen eingeteilt:
- Region 1: Die erste erstreckt sich von den USA über den Atlantik bis nach Island, Großbritannien und Norwegen.
- Region 2: Die zweite umfasst Europa nördlich der Alpen mit Deutschland, Polen, Mittelosteuropa und einschließlich der baltischen Staaten.
- Region 3: Und die dritte zieht sich über den Mittelmeerraum und den Balkan bis hin in die Schwarzmeer-Region mit Ländern wie Rumänien und Bulgarien.
Nach Angaben aus dem Bündnis geht es bei den Planungen vor allem um die Abwehr eines Angriffs im Ausmaß von jenem auf die Ukraine. Dabei wurden auch etliche Bereiche identifiziert, in denen Europa nun mehr tun muss. Den Militärs zufolge braucht es mehr schwere Kräfte, die auch heftigen Kämpfen standhalten können, mehr Flugabwehrsysteme und mehr weitreichende Artillerie und Raketensysteme.
Im Osten des Bündnisgebietes werden die Pläne als wichtige Weichenstellung gewürdigt. „Das bedeutet, dass wir wirklich bereit sind, unser Land vom ersten Zentimeter an, vom ersten Moment an zu verteidigen“, sagt Estlands Regierungschefin Kaja Kallas.
Kommentare
Willkommen in unserer Community! Eingehende Beiträge werden geprüft und anschließend veröffentlicht. Bitte achten Sie auf Einhaltung unserer Netiquette und AGB. Für ausführliche Diskussionen steht Ihnen ebenso das krone.at-Forum zur Verfügung. Hier können Sie das Community-Team via unserer Melde- und Abhilfestelle kontaktieren.
User-Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Betreibers/der Redaktion bzw. von Krone Multimedia (KMM) wieder. In diesem Sinne distanziert sich die Redaktion/der Betreiber von den Inhalten in diesem Diskussionsforum. KMM behält sich insbesondere vor, gegen geltendes Recht verstoßende, den guten Sitten oder der Netiquette widersprechende bzw. dem Ansehen von KMM zuwiderlaufende Beiträge zu löschen, diesbezüglichen Schadenersatz gegenüber dem betreffenden User geltend zu machen, die Nutzer-Daten zu Zwecken der Rechtsverfolgung zu verwenden und strafrechtlich relevante Beiträge zur Anzeige zu bringen (siehe auch AGB). Hier können Sie das Community-Team via unserer Melde- und Abhilfestelle kontaktieren.