„Lang, hart, blutig“
Scheitert die ukrainische Gegenoffensive gerade?
Die Gegenoffensive der Ukraine läuft zäh. Dem US-Militär zufolge liegt das aber nicht an den russischen Streitkräften, sondern viel mehr an explosiven Hindernissen im Boden. Im Westen wächst die Nervosität - während Russland weitere Drohkulissen aufbaut.
Seit wenigen Wochen holt die Ukraine zum Gegenschlag aus, doch viele westliche Verbündete werden zunehmend nervös. Der Grund: Wolodymyr Selenskyjs Truppen kommen nur sehr langsam voran. Erfolge werden aktuell in Metern und nicht in Kilometern gemessen. Dieser Umstand sorgt immer häufiger für Kopfzerbrechen.
Viele Unterstützerländer haben mit hoher Inflation, steigenden Zinsen und schleppendem Wachstum zu kämpfen. Ihre Staatsoberhäupter müssen fortwährende finanzielle wie materielle Zuwendungen an die Ukraine immer häufiger rechtfertigen, während oppositionelle Kräfte die Mehrausgaben öffentlichkeitswirksam infrage stellen - und in Umfragen regierende Parteien überflügeln.
Rennen gegen die Zeit
In den nächsten anderthalb Jahren werden viele Parlamentssitze neu vergeben: In Österreich, Europa und den USA stehen Wahlen an. Die Einsätze wurden zuletzt merklich erhöht.
Joe Bidens Entscheidung, der Ukraine international geächtete Streumunition zu liefern, lässt auf eine gewisse Dringlichkeit schließen. Die Frontlinien in der Süd- und Ostukraine haben sich in den letzten Monaten kaum bewegt, so dass die russischen Truppen viel Zeit hatten, sich zu verschanzen und entsprechende Verteidigungsanlagen zu errichten (siehe Grafik unten).
Selenskyjs jüngste Wortmeldungen können als Fingerzeig gen Westen verstanden werden: „Jeder Meter, jeder Kilometer kostet Leben.“ Der ukrainische Präsident wolle strategisch entscheiden, wohin die Truppen geschickt werden. „Man kann sehr schnell etwas tun, aber das Feld ist bis auf den Grund vermint. Die Menschen sind unser Schatz. Deshalb sind wir sehr vorsichtig.“
USA bemühen sich um Ruhe
Auch die militärische Führung der USA presst nun ihren Zeigefinger gegen Ober- und Unterlippe: „Die Ukrainer rücken stetig und zielstrebig vor“, sagte Generalstabschef Mark Milley am Dienstag im US-Verteidigungsministerium nach einem Online-Treffen der internationalen Ukraine-Kontaktgruppe zur Koordinierung der Militärhilfe. „Das ist alles andere als ein Misserfolg“, ergänzte er nach einer entsprechenden Frage.
Es sei viel zu früh, um zu solch einem Schluss zu kommen. „Ich denke, es gibt noch viel zu kämpfen, und ich bleibe bei dem, was wir zuvor gesagt haben: Es wird lang, es wird hart, es wird blutig.“ Als Grund für das langsame Vorrücken nannte Milley denselben wie Selenskyj: vermintes Gebiet.
Minen als härtester Gegner
Verluste auf Seiten der Ukraine würden häufig auf Minenfelder zurückgehen und nicht so sehr auf die Stärke der russischen Luftwaffe, erklärte der General. Zudem kämpft die Ukraine mit Munitionsproblemen, weil sie mehr verschießt als im Westen produziert wird.
Ein Rechenbeispiel
- Die Ukraine verfeuert Tausende 155-Millimeter-Artilleriegranaten am Tag. Die höchsten Schätzungen liegen bei 7000 Schuss in 24 Stunden.
- Nach Pentagon-Angaben stellen die USA von diesem Typ nur 14.000 Stück pro Monat her.
Die US-Regierung hat am Mittwoch neue militärische Hilfe für die Ukraine im Wert von rund 1,16 Milliarden Euro angekündigt. Damit soll insbesondere die Verteidigung des ukrainischen Luftraums gestärkt und der Bedarf an Munition gedeckt werden, wie das Pentagon mitteilte. Die neue Ausrüstung wird den Angaben zufolge bei der Industrie beschafft und nicht von Beständen des US-Militärs bezogen, da selbst die US-Vorräte endlich sind.
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin versicherte zuvor, dass die Verbündeten der Ukraine weiter liefern würden: „Unsere Arbeit geht weiter, und wir werden alles tun, was wir können, um sicherzustellen, dass die Ukrainer erfolgreich sein können.“ Westliche Analysten wie das Institut für Kriegsstudien (ISW) sind der Meinung, dass die Gegenoffensive, selbst wenn sie erfolgreich sein sollte, den Krieg nicht beenden wird. Sie könnte sich jedoch als eine entscheidende Episode erweisen und Kiews Position bei etwaigen Verhandlungen stärken. Doch dafür müssten sich jetzt Erfolge einstellen.
Denn während in sozialen Medien und diversen Polit-Talkshows um die Definition von Misserfolg gerungen wird, setzt Russland zu Gegenschlägen an, die ein Vorrücken verhindern. Ein Presseoffizier der ukrainischen Armee sprach im Fernsehen von 100.000 Mann, die Russland angeblich an den Frontabschnitten Kupjansk und Lyman zusammengezogen habe. Auf Telegram berichtet auch Vize-Verteidiungsministerin Hanna Maljar von den Attacken großer russischen Kontingente im Kupjansk-Sektor.
Wagner-Konvoi kommt in Belarus an
Zudem droht der Ukraine neue Gefahr aus dem Norden. Ein großer Konvoi mutmaßlicher Wagner-Kämpfer ist aus Russland kommend in einem Lager bei Minsk eingetroffen, wie neue Satellitenbilder zeigen. BBC berichtet von Dutzenden Fahrzeugen, die in das Lager in Tsel, einem stillgelegten Militärstützpunkt im Süden von Belarus, eingefahren sind.
Das Lager tauchte zum ersten Mal Ende Juni auf. Kurz zuvor wurde die Wochenend-Meuterei von Wagner gegen Russlands Militärführung für beendet erklärt. Wladimir Putin stellte den Söldnern frei, sich der regulären Armee anzuschließen, nach Belarus auszureisen oder aber ins zivile Leben zurückzukehren.
Die jüngsten Bilder deuten darauf hin, dass Wagner nun damit begonnen hat, eine große Anzahl von Soldaten zu verlegen - und Putin den Zermürbungskrieg neu ausrichtet. Sollte die Unterwerfung der Ukraine zu Beginn ganz schnell bewerkstelligt werden, spielt der Kreml jetzt auf Zeit. Denn nach den nächsten anderthalb Jahren könnten von Washington D.C. bis Wien ganz neue Gesichter am Verhandlungstisch Platz nehmen.
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