Vor einem Jahr war Österreich gespalten. So tief waren die Gräben zwischen Befürwortern der Corona-Maßnahmen und ihren Gegner, dass sie Familien entzweiten. Dass Freunde nicht mehr miteinander sprachen. Dass die Ärzten Lisa-Maria Kellermayr am Ende keinen Ausweg mehr wusste, und sich das Leben nahm. Die oberösterreichische Medizinerin wurde zum Symbol für diesen Riss in der Gesellschaft. Weil sie, die in der Impfung den Ausweg aus der Pandemie sah, genau deshalb von Verschwörungstheoretikern und Internettrollen in die Verzweiflung getrieben wurde. Lichtermeere und lautstarke Politikerbekundungen, endlich etwas gegen Hass im Netz zu unternehmen - sie prägten die Bilder und Schlagzeilen vor einem Jahr. Und heute? Die Pandemie ist vorbei. Im Heimatort von Lisa-Maria Kellermayr spricht man am Stammtisch über vieles - die Teuerung, das Bier, das Wetter - nur nicht über sie. „Jede Zeile, die geschrieben wird, schadet uns“, sagt der Bürgermeister auf, „Krone“-Anfrage zum traurigen Jahrestag. Das mag sein. Aber wenn wir aufhören, über Lisa-Maria Kellermayr und ihre Beweggründe zu schreiben, vergessen wir. Dann verharmlosen wir, dass Hass (im Netz und in der realen Welt) Menschen tötet. Dass Spaltung brandgefährlich ist - und dass Politiker die Pflicht haben, die Menschen zu vereinen, anstatt sie zu spalten.
Es darf daher nicht sein, dass eine Regierungspartei die Menschen trennt - in normal und abnormal. Keine Partei, die Politik „für unsere Leut“ propagiert und auf „die anderen“ vergisst oder sie gar bewusst zum Sündenbock macht, zeigt das Verantwortungsgefühl, das es braucht, um ein Land geeint durch eine Krise zu führen. „Das tun doch alle“, so ein Tenor aus einer Straßenumfrage der „Krone“ in den Bundesländern. Ja, das tun sie auf die eine oder andere, mehr oder weniger offensichtliche Art und Weise. Und haben offenbar alle vergessen, wie zwei Lager erst vor zwölf Monaten das Land spalteten und eine Frau in den Tod trieben. Wer nach den nächsten Wahlen das Land durch Teuerung, Klimakrise, Krieg und mehr lenken will, sollte sich daran erinnern. Und die nächsten zwölf Monate nutzen, um die Gesellschaft zu einen. Im kleinen in Gesprächen am Stammtisch, bei Sommertouren. Im großen bei Medienauftritten und Wahlwerbung durch die richtige, durch eine versöhnende Wortwahl und ebensolche inhaltlichen Botschaften. (ts)
Genießen Sie Ihren Sonntag!
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