Rund 55.000 Fans feierten Mittwochabend das erste von zwei ausverkauften Rammstein-Konzerten im Wiener Ernst-Happel-Stadion. Feuersbrünste, wahnwitzige Effekte und eine opulente Bühne inklusive. Doch auch wenn die Stimmung am Überkochen war - die aktuellen Diskussionen lassen sich nicht so einfach aus der Realität wegschieben.
Ein Konzert unter Protesten ist im gemütlichen Wien eine Seltenheit. Nach zwei Monaten voller Vorwürfe gegenüber Rammstein-Sänger Till Lindemann und zuletzt auch Keyboarder Christian „Flake“ Lorenz fanden sich zahlreiche Gruppierungen zusammen, um vor dem ersten der beiden Auftritte der deutschen Metalband im Ernst-Happel-Stadion gegen sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch aufzutreten.
1800 Demonstranten
Laut den Veranstaltern waren bis zu 1800 Demonstrierende gekommen, etwas überraschend blieb es zwischen den gespaltenen Lagern recht ruhig. Ein paar hitzige Wortgefechte und wenige Bierduschen exklusive. Wir haben an dieser Stelle ausführlich berichtet. Sich rein auf Show und Musik zu konzentrieren, ist aufgrund der Nebengeräusche gar nicht so einfach. Die einzigen, die das mit einer militärischen Stringenz über die Bühne bringen, sind die Musiker selbst.
Argwöhnische Perspektive
An Rammstein perlen sämtliche Kritik, Internet-Vorverurteilungen und moralische Unzulänglichkeiten ab wie an Teflon. Wird es den Berlinern irgendwann zu viel, rückt eine Armada an Anwälten aus, um bei Medien, mutmaßlichen Opfern und Aktivisten die Zügel stramm zu ziehen. Juristisch gilt die Unschuldsvermutung, moralisch liegt vieles in einer argen Schieflage und künstlerisch zelebriert das Sextett völlig souverän und unangreifbar sein gewohntes und mehr als erfolgreiches Potpourri aus schneidend-eingängigen Riffs, poetisch-perverser Lyrik und bewusst inszenierter Provokation. Als reflektierter Mensch ist es freilich nicht möglich, Till Lindemann bei Songs wie „Bestrafe mich“ oder „Du riechst so gut“ nicht aus einer argwöhnischen Perspektive zu beobachten. Sehr viele Fans feiern ihre Helden mit bedingungsloser Treue, andere müssen beim Schlucken zumindest an einem leichten Kropf vorbeimanövrieren, wenn das überteuerte Bier die Kehle zur nächsten Mitgröl-Nummer befeuchtet.
Rechtzeitig zum ersten Rammstein-Gig hat der Himmel seine Decke ausgebreitet, um die Sonne zu verstecken. Bei rund 20 Grad Celsius, also tiefstem Winter im Direktvergleich zu den letzten Tagen, heizt die Band mit ihrer rekordverdächtigen Feuershow umso mehr ein. Bei „Mein Herz brennt“ schwallt das erste Mal eine leichte Feuersbrunst gen Auditorium, danach potenziert man die Zurschaustellung der Effekte stetig. Bei der düsteren Psychoballade „Puppe“ brennt ein Kinderwagen samt Horrorpuppe lichterloh, in „Mein Teil“ röstet Fleischer Lindemann Keyboarder Flake wie gewohnt mit Bunsenbrenner und einem an Artilleriegeschütze erinnernden Flammenwerfer und die titelgebende „Sonne“ macht man sich mit dem imposanten Feuerstakkato schon selbst.
Bühne als Fieberfantasie
Die vornehmlich mit Basecaps oder sehr schütterem Haar ausgestatteten Fans in der „Feuerzone“ zelebrieren ihre Helden vorwiegend mit 1-Liter-Bier-Bechern und zeigen sich text-, aber nicht rhythmussicher. Die imposante Bühne erinnert in ihrer Opulenz an eine völlig überdrehte Fieberfantasie eines Weltkriegsarchitekten, mit den ausufernden Pyroeffekten könnte man wahrscheinlich ganzen Bezirken durch den Winter helfen. Geschickt changieren Rammstein zwischen alten („Links 2-3-4“, „Sehnsucht“) und neueren Songs („Giftig“, „Zeit“) und bewegen sich in einer nicht näher definierbaren Grauzone zwischen bewusst provokativer Riefenstahl-Ästhetik und grellbuntem Horrorzirkus für Erwachsene.
Im Bereich des Entertainments spielen die Berliner seit jeher in ihrer eigenen Liga, das fortlaufend in lichte Höhen steigende Budget erlaubt Größenwahn, der von den Fans goutiert und sogar erwünscht wird. Gitarrist Richard Kruspe schreitet entweder im langen Nosferatu-Mantel oder im gefiederten Elvis-Gedenkoutfit über die Bühne, Drummer Christoph Schneider formt Herz-Hände und ist der allgemeine Sympathieträger der Band, Keyboarder Flake betätigt sich wie gewohnt am Laufband, ist der Klassenclown, Paul Landers und Oliver Riedel bleiben dezent an den Instrumenten. Vorne der skandalisierte Till Lindemann. Anfangs mit Irokesenschnitt, dann mit blondem Wuschelhaar. Der Zeremonienmeister mit angsteinflößender Mimik, offensiver Gestik und einer gegen alle Strömungen ankämpfenden Selbstsicherheit, die man irgendwo zwischen unverständlich und beneidenswert einordnen kann. Je nachdem, auf welcher Seite man sich in- und außerhalb des Stadions befindet.
Stumpf ist Trumpf
Den Song „Pussy“ und die berühmte Penis-Kanone haben Rammstein schon Anfang Juni aus dem Programm genommen. Dafür gibt es eine fast schon zarte Version des melancholischen „Ohne dich“ und eine am Piano zelebrierte Akustikvariante des Top-Hits „Engel“ zu bestaunen. Wenn es nicht gerade irgendwo lichterloh brennt, die Bandmitglieder sich auf drei Schlauchbooten von der B-Stage zurück auf die Bühne schieben lassen oder die Konfettikanone auf Anschlag gestellt ist, hat so mancher Zeit, ein bisschen über all die Sinneseindrücke seiner Lieblingsband zu sinnieren. Musikalisch bleibt stumpf Trumpf, das aber in gewohnt großartiger Aufmachung. Daneben ist die Sachlage ziemlich klar - und gilt weit über Rammstein hinaus. Ein „Nein“ ist ein „Nein“, auch wenn es davor vielleicht ein „Ja“ war. Indiskutabel, nicht verhandelbar.
Nach „Adieu“ gehen die Rammstein-Mitglieder in die Knie und orchestrale Versionen von „Sonne“ und „Haifisch“ gleiten die enthusiasmierten Fans langsam aus dem Areal. Till Lindemann wendet sich nach 135 Minuten Bombast erstmals an seine Anhänger. „Wien, ihr wart fantastisch. Danke, dass ihr da wart. Bis morgen.“ Keine veränderten Textzeilen in den Liedern, keine Anklänge an das hochgekochte Thema sexuelle Gewalt. Mit der stoischen Kraft des Aussitzens und Ignorierens ziehen Rammstein ihr Programm rigoros weiter. Am Donnerstagabend findet die zweite restlos ausverkaufte Show der Deutschen statt. Demonstration ist dieses Mal keine geplant, das Stadion wird dafür aber wieder in Flammen stehen und die Stimmung bierselig sein. Trotz alledem - nichts wird rund um Rammstein je wieder so sein, wie es noch vor Kurzem war.
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