Nach dem mit Lob und guten Chartplatzierungen überhäuften „Seeking Thrills“ ließ sich die britische Elektronikerin Georgia ausreichend Zeit, um am Drittwerk „Euphoric“ zu basteln. Dafür wagte sie sich aus ihrem Londoner Kokon und tauchte in eine bunte Welt ein, wo sich Euphorie und Melancholie die Hand geben.
Mit Singles wie „Release The Pressure“, „Afrika Shox“ oder „Dusted“ prägte das Londoner Elektronik-Duo Leftfield vor allem die zweite Hälfte der 90er-Jahre-Dance-Szene in Großbritannien nachhaltig. Mit der eklektischen, aber einzigartigen Mischung aus Dub, Breakbeat und Techno überzeugten Paul Daley und Neil Barnes breitflächig, bis es 2002 zum solobedingten Split kam. Seit 2010 ist nur mehr Barnes als Leftfield-Nachlassverwalter unterwegs, dafür hat er die kompositorischen Gene an seine Tochter Georgia Rose Harriet Barnes, kurz Georgia, weitergegeben. Die Londonerin wuchs in der Clubszene der pulsierenden europäischen Metropole auf und begann sehr früh, am Laptop im Schlafzimmer an eigenen Tracks zu basteln. Sie reüssierte zudem als Studiomusikerin und war kurz davor, zuerst bei Crystal Palace und dann bei Arsenal eine Karriere als Profifußballerin zu starten. Nicht zuletzt die Verheißungen der Metropole verhinderten diesen Plan schlussendlich nachhaltig.
Die gute Zeit anders erleben
Nach dem gemeinhin von der öffentlich unbemerkten Debütalbum „Georgia“ (2015) zog sie sich erst einmal kurz zurück und lebte auf etwas zu großem Fuß. 2019 konstatierte sie, dem Alkohol abgeschworen zu haben und vegan zu leben, ein knappes Jahr später gelang mit dem Mercury-Prize-nominierten Electronic-Club-Goldstück „Seeking Thrills“ Platz eins der UK-Indie-Charts und der Sprung in oberste Karrieregefilde. „Um eine gute Zeit auf der Tanzfläche zu haben, brauchst du keinen Alkohol und keine Drogen“, erzählt uns Georgia im „Krone“-Gespräch, „ich ging damals einen radikalen Weg nach unten und musste dringend etwas ändern. Ich sah den Alkohol als eine Fluchtmöglichkeit, was weder für mich, noch für die Menschen in meinem Umfeld gesund war. Meine neue Fluchtmöglichkeit ist die Dance-Musik. Dort finde ich meinen Eskapismus.“
Nicht nur „Seeking Thrills“ beförderte Georgia in die Oberliga des internationalen Popsegments. Sie arbeitete mit den Gorillaz, Shygirl und David Jackson, kreierte Remixes für Metronomy und Jessie Ware und prägte - ihrem Naturell entsprechend unauffällig im Hintergrund - den Sound des letzten Nummer-eins-Albums der Country-Königin Shania Twain. Georgia ist seit geraumer Zeit also nicht nur kreativ, sondern auch immens vielseitig. Für ihr brandneues Album „Euphoric“ wagte sie sich gar aus dem natürlichen Habitat, ihrem Schlafzimmer, um ihren Sound und somit auch die Karriere auf die nächste Stufe zu haben. Verantwortlich dafür ist Vampire-Weekend-Gründungsmitglied Rostam Batmanglij, der den Track „Live Like We Are Dancing“, Georgias Kooperation mit dem Briten Mura Masa hörte, und von der britisch-entrückten, trotzdem durchschlagenden Stimme Georgias begeistert war.
Mehr Platz für Licht und Farben
Er mailte die 33-Jährige an, die sah sich dadurch erstmals so richtig als Sängerin und nicht nur als kreative Songwriterin und Produzentin und der Rest ist Clubmusik-Geschichte. Wobei - so ganz stimmt das nicht, denn wo „Seeking Thrills“ wirklich noch ein tiefes Eintauchen in das Nachtleben war, schimmert „Euphoric“ nicht nur am Cover-Artwork in allen bunten Farben, sondern mengt dem Ganzen eine kräftige Dosis Pop bei. Das wird vielleicht nicht allen Fans des letzten Werks kritiklos gefallen, zeugt aber von Mut und einem gewissen Drang zur Weiterentwicklung. Dass Georgia in Songs wie „All Night“ oder dem Closer „So What“ damit partiell ein bisschen ins Seichte abrutscht, ist im Gesamtbild gut zu verschmerzen. Demgegenüber stehen geniale Stücke wie der „Mountain Song“, das eindringliche „Keep On“ oder das wohl von Rostam gewünschte „Live Like We Are Dancing II“, mit dem der Produzent für sich einen Kreis geschlossen hat. Den temporären Umzug von London nach Los Angeles hört, fühlt und spürt man dem Album zu jeder Zeit an.
„Die Musik ist für mich alles. Ohne sie wäre ich nicht dort, wo ich heute bin. Der Dancefloor ist nicht nur mein Leben, sondern auch meine Identität. Ich liebe es, von Leuten umgeben zu sein, die tanzen und einfach eine tolle Zeit haben. Ich bin definitiv ein Kind der UK-Raveszene und freue mich jedes Mal zu sehen, wie sie die Musikkultur verändert und prägt. Auf dem Dancefloor stehst du neben Menschen, die ganz anders sind als du, aber es herrscht trotzdem eine gewisse Dynamik und Einigkeit, die man sonst in der Form nirgends verspürt.“ Auf „Euphoric“ geht Georgia tief zurück in ihre eigene Vergangenheit, lässt Erlebnisse und Erfahrungen Revue passieren und wagt sich damit noch stärker aus ihrem sicheren Kokon, als das bei „Seeking Thrills“ der Fall war. „Die elektronische Musik bietet so viele Entfaltungsmöglichkeiten. Ein 80er-Jahre-Song von Depeche Mode ist einem House-Track von Chicago sehr ähnlich. Ich habe mich vom Synthiepop aus England weg so weit vorgearbeitet, dass ich eine Zeit lang total im Chicago- und Detroit-Sound versank.“
Es geht um Zusammenhalt
Als einschneidende Veränderung geht nicht nur der massentaugliche Sound über die Ziellinie, auch die selbstständigere Arbeitsweise und der Ausbruch aus den eigenen vier Wänden stellte in Georgias Klangkosmos eine entscheidende Zäsur dar. Von politischen Botschaften, die auf „Seeking Thrills“ zumindest noch in Teilen mitschwammen, geht sie auf „Euphoric“ vorerst auf Abstand. Ganz nach dem Motto: In einer schrecklichen der Zeit der Kriege, Klimakatastrophen und politischen Extreme gilt es mehr denn je, zusammenzustehen und diesen Planeten so bunt wie möglich zu gestalten. Für eine Weltuntergangsparty ist „Euphoric“ zu wenig zynisch und sarkastisch, doch gerade diese Haltung macht einen großen Teil des Charmes von Georgias Drittwerk aus. „Ich bin voll im Hier und Jetzt und bereit für die nächsten Schritte.“ Nun denn - wir auch!
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