„Knebworth 22“

Rockrüpel Liam Gallagher dreht eine Nostalgierunde

Musik
09.08.2023 09:00

Vor gut einem Jahr spielte Oasis-Hälfte Liam Gallagher zwei Konzerte vor rund 170.000 Fans auf heiligem Britpop-Boden im ländlichen Knebworth. Das vorliegende Album lässt uns alle noch einmal in Nostalgie versinken, die noch weit weiter zurückreicht.

(Bild: kmm)

Nostalgie ist noch immer das beste Geschäft. Als Liam Gallagher, beflügelt von seinem zweieinhalbten Karrierefrühling der letzten Jahre, im Sommer 2022 ins rurale Knebworth lud, wollte er natürlich an die legendären Oasis-Konzerte aus dem August 1996 erinnern, die noch heute als der „Heilige Gral“ unter den Liveauftritten der Britpop-Legenden gelten. Dass der goscherte Liam überhaupt noch einmal so viel Fahrtwind unter den Achseln verspürt, gehört zu den mittelgroßen Popwundern der Gegenwart. Nach dem Oasis-Split begann er die 2010er-Jahre mit seinem Projekt Beady Eye zwar hoffnungsvoll, konnte den hohen Erwartungen aber nicht gerecht werden. 2017 dann der Turnaround Richtung Solokarriere, die ihm - das „MTV Unplugged“-Album eingerechnet - vier Nummer-eins-Platzierungen in den britischen Charts einbrachte, die Hallen füllte und auch die Kritiker versöhnte.

Majestätische Veredelung
Im Sommer 2022 verkaufte Liam nicht weniger als 170.000 Tickets für seine beiden Knebworth-Konzerte und verpasste seinem fulminanten Comeback damit eine majestätische Veredelung. Lässt man die unsinnige und auch ein bisschen lächerliche Erwartung weg, dass man die Gigs von vor 26 Jahren neu erleben möchte, bekommt man auf dem vorliegenden „Knebworth 22“-Livealbum einen damals fast 50-jährigen Pop-Jesus in später Hochform. Geschickt changiert er zwischen unverzichtbaren Oasis-Klassikern der Marke „Slide Away“, „Some Might Say“ oder „Supersonic“ und vermengt dabei auch seine Solostücke mehr als geschickt. Das mit einem famosen Background-Chor ausgestattete „More Power“, das fantastische „Once“, aber auch das lange sträflich unterschätzte „Wall Of Glass“ wissen besonders zu überzeugen. Für Beady Eye-Songs bleibt in dieser Hitstafette kein Platz.

Gallagher ist in erster Linie ein Performer und kein Erschaffer. Das unterscheidet ihn seit Jahr und Tag von seinem kreativ genialeren Bruder Noel, der ihn mit einem feinen Soloalbum vor gut zwei Monaten nach einer Zeit der Dürre qualitativ wieder eingeholt hat. Doch wo der ältere Gallagher immer etwas verklemmt, sperrig und semicharismatisch wirkt, macht Liam seinen fehlenden Genius mit großer Schnauze, Scheißegal-Attitüde und einem Selbstvertrauen, mit dem man die gesamte Galaxie zweimal einwickeln könnte, locker wett. So erlaubt er sich während der beiden hier zusammengeschnittenen Knebworth-22-Gigs als überzeugter Manchester-City-Fan eine Breitseite gegen den Erzrivalen United und erntet dafür Buhrufe oder stapft mit seiner einzigartigen Nonchalance pseudoangesäuert über die Bühnenbretter. Eben der letzte echte Rockstar in einer Welt der zunehmenden Anpassung und Gleichschaltung.

Gewonnene Stimmreife
Die Stimme Gallaghers ist über die Jahre fein gereift. Nach diversen Zwischentiefs hantelte sich Liam über die Zwangspause während der Corona-Pandemie wieder zu Höchstleistungen auf. Gerade bei Songs wie dem autobiografischen Stampfer „Rock And Roll Star“ oder auch dem wesentlich gediegeneren „Everything’s Electric“ spürt man die dazugewonnene Tiefe und den Mut, sich bewusst von nicht mehr erreichbaren Sphären aus der Vergangenheit zu lösen. Dass mehr als die Hälfte der dargebotenen Songs zurück in die reichhaltige Oasis-Historie blicken, war erwartbar, dennoch scheut sich Liam nicht davor zurück, seine drei Soloalben in angemessener Art und Weise zu präsentieren. Hätten Oasis nicht die monsterschattige Vergangenheit, die auch über die beiden Brüder hängt wie eine Giftwolke, würde man so einige Solotracks des Mancunians zweifellos als kompositorischen Geniestreich abfeiern.

Wie sehr Liam Gallagher Diener der Musik und seiner Fans ist, beweist nicht zuletzt der Smash-Hit „Wonderwall“, der nicht nur dem Interpreten schon beim Hals heraushängt, aber - und das weiß ein guter Entertainer natürlich - in so einer Szenerie nicht fehlen darf. Wundervolle Highlights gibt es dafür an anderen Stellen zu beobachten. Etwa das von Oasis nie gespielte „Roll It Over“, ein Glanzstück aus der zweiten Reihe des 2000er-Albums „Standing On The Shoulder Of Giants“, das Liam mit einer erhabenen Inbrunst zum Besten gibt, die Gänsehaut verursacht. Das wuchtige „The River“ und die seiner Mutter gewidmete Extended-Version des legendären Klassikers „Champagne Supernova“ lassen sich auch als herausragende Höhepunkte zweier an Höhepunkten nicht armen Abenden hervorstreichen.

Das Rätselraten geht weiter
Wer 2022 selbst bei einem (oder beiden) Knebworth-Gigs am Start war, bekommt mit dieser Live-Rückschau noch einmal eine kräftige Portion Legendenschau fürs Plattenregal serviert, alle anderen können sich zumindest im Wohnzimmer daran laben, was sie aus welchen Gründen auch immer live verpasst haben. Dass sich die beiden Streithanseln offenbar auch für 2024, dem 30-Jahre-Jubiläum des Oasis-Debütalbums „Definitely Maybe“, nicht zusammenraufen können, scheint beschlossen, dafür will Liam als nächstes Projekt ebenjenes Album in seiner Gänze durch die großen Arenen (und vielleicht Stadien) dieser Welt bringen, während Noel eher sein Soloalbum feiern wird. Das ist auch der elementarste Unterschied zwischen den beiden stolzen Proleten. Der eine schaut gerne zurück und lebt im Jetzt, der andere blickt lieber nach vorne in die Zukunft. Doch irgendwann werden sich die Zeitformen auch wieder bündeln. Next stop: 2025 - 30 Jahre „(What’s The Story) Morning Glory“.

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