„Krone“-Interview

Call Me Karizma: „Möchte der größte Rockstar sein“

Niederösterreich
15.08.2023 09:00

Mit einer eklektischen Mischung aus Hip-Hop, Punk und Rock versucht sich der Amerikaner Call Me Karizma aus dem Fahrwasser von Machine Gun Kelly und Yungblud zu befreien, um selbst zum Superstar zu werden. Im „Krone“-Interview spricht er über Irrwege in der Vergangenheit und was ihn reifen ließ. Nächste Station: Frequency Festival in St. Pölten.

In einem verschlafenen Dorf namens New Prague in Minnesota gibt es wenig zu tun, außer sonntags in die Kirche zu gehen und den Tag runter zu biegen. Morgan Francis Parriott wird katholisch erzogen und kommt mit christlichen Rockbands in Berührung. Als er im Kindesalter das erste Mal zu einer Eminem-CD kommt, beginnt er im zarten Alter von zwölf erstmals selbst Songs zu schreiben. Mit Mod Sun und Blackbear probiert er sich später im weißen Hip-Hop aus, sein Lebensstil kann als das Gegenteil von bescheiden betrachtet werden. Erst mit den Jahren bemerkt Call Me Karizma, wie er sich seit einiger Zeit nennt, dass der Weg zum Erfolg nicht über Arroganz und spätpubertäres Verhalten führt.

Mit der privaten Ruhe und Reife beginnt auch die Musik Formen anzunehmen. Sein Zweitwerk „To Hell With Hollywood“ kokettiert erstmals mit Punk und Rockmusik, auf dem autobiografischen und grundehrlichen „Francis“ findet er sich musikalisch endgültig. Irgendwo im Gestus und der Ausstrahlung zwischen Machine Gun Kelly und Yungblud ist Call Me Karizma ein (noch kleineres) Sprachrohr einer ganzen Generation und versucht sein Wirken zunehmend positiv zu nützen. Mit 28 fühlt sich Parriott reif genug, um seiner Karriere nun endgültig den letzten Erfolgspush zu geben. Dass sich sowas aber nicht einfach so planen lässt, ist ihm im Laufe der Zeit bewusst geworden.

„Krone“: Morgan, 2022 warst du im Wiener Chelsea, diesen Winter schon im Flex. Es geht bei dir stetig nach oben.
Call Me Karizma:
 Kann man so sagen. 2022 war ich in Europa unterwegs und habe im Schnitt 150 Tickets pro Abend verkauft. In diesem Jahr gab es kaum eine Show, wo es weniger als 350 Leute waren. Wien war ein bisschen ein härteres Pflaster, aber trotzdem eine tolle Steigerung.

Du bist im beschaulichen New Prague in Minnesota geboren und aufgewachsen. Das ist jetzt nicht die typische Gegend, von der aus man in den USA eine Karriere als Musiker startet. Wie kam es also zur Leidenschaft, zu rappen und in die Musik zu gehen?
Ich habe schon früh Eminem und 50 Cent gehört. Der Hip-Hop von 2000 bis 2005 ist genau meines. Ich bin katholisch aufgewachsen und meine Eltern haben mich zu christlichen Rockfestivals mitgenommen, wo Bands wie Skillet spielten. Die Eminem-Alben habe ich mir dann selbst zugelegt, denn christliche Rapper kannte ich keine. Niemand in meiner Familie hat je Musik gemacht, aber ich wollte immer in diese Welt eindringen.

Eminem war das für dich wichtigste Vorbild?
Würde ich so sagen. Vor allem die Art und Weise, was er zu sagen hatte und wie er Texte schrieb, haben mich begeistert. Er hat im Hip-Hop eine Gegenkultur geprägt und das ganze Genre auch dem weißen Amerika zugänglich gemacht. Er sang gegen Dinge, die damals die Norm waren und hat sich schon immer mutig aus dem Fenster gelehnt und dafür den Boden für viele andere bereitet. Hip-Hop war früher Gangster-Musik, aber Eminem hat es geschafft, dass er diese Musik jedem auf der ganzen Welt zugänglich gemacht hat. Er hat uns allen die Türen geöffnet.

Du zeigst dich in deinen Texten selbst sehr offen und verletzlich. Gehört da eine gehörige Portion Mut dazu?
Ich fand es schon immer cool, dass man populäre Musik machen und gleichzeitig für etwas einstehen kann. Das hat ja nicht nur Eminem so praktiziert. In gewissen Dosen auch Bands wie Green Day, wo der Spaß schon im Vordergrund steht, aber hier und da auch sehr politische Botschaften deutlich artikuliert werden.

Es ist trotz allem ein schmaler Grat, denn jemand wie U2-Frontmann Bono ist immer kurz davor, auf der Bühne zu predigen. Das kann dann auch die gegenteilige Wirkung auf die Menschen ausüben.
Es ist nicht einfach, aber im Endeffekt geht es mir darum, dass absolut jede Person für diese Stunde, die ich auf der Bühne stehe, willkommen ist. Die Menschen sollen aus dem Alltag kommen und einfach die Show genießen, das ist mir am wichtigsten. Es gibt bei meinen Konzerten junge Mädchen mit grünen Haaren und einem Goth-Touch, aber auch 25-jährige Typen, der gerade die Uni abgeschlossen haben und noch auf eine Football-Karriere hoffen. (lacht) Ich befinde mich irgendwo zwischen Rock und Rap, aber es ist immer noch alternative Musik und die zieht bestimmte Leute an.

Du hast mit Hip-Hop begonnen, aber über die Jahre immer mehr Einflüsse aus anderen Richtungen zugelassen. Heute bist du eigentlich gar nicht mehr wirklich einzuordnen.
Ich war noch nicht östlicher als in Russland, aber es gibt so viele Plätze, wo die Leute ziemlich rau und direkt sind. In den USA ist alles ein bisschen weicher und in einer gewissen Art und Weise auch geschönt. Die Leute in anderen Teilen der Welt haben aber ganz andere Probleme und Konzerte sind für sie oft ein Ventil, ihren Frust rauszulassen. Das fand ich aus der Ferne sonderbar, aber ich kann es jetzt besser verstehen. Meine Musik kommt in ihrer Mischung hier besser an als in Amerika.

Inspiriert dich diese Intensität im Publikum zu neuen Songs oder neuen Songfragmenten?
Ich füttere mich selbst von dieser Energie. Ich habe auch erst in Europa das erste Mal einen Moshpit bei einer meiner Shows gesehen. Im Hip-Hop gibt es das nicht wirklich, deshalb liebe ich die Rockmusik so sehr. Sie ist einfach energetischer und ungezügelter. Ich will den Hip-Hop in den Rock bringen, weil beide Welten zusammen am besten funktionieren. Das sieht man auch bei Rage Against The Machine oder Limp Bizkit, aber jüngere Bands haben diesen Weg ein bisschen verloren. Diese Fackel würde ich gerne weitertragen. Ich habe keine Scheuklappen. Die Leute merken sofort, wenn du etwas aus Kalkül machst - das siehst du bei vielen Künstlern sofort. Der Track kann gar nicht so gut sein, dass du diesen Fake in der Stimme dann nicht bemerkst. Ich hüpfe zwischen den Genres hin und her und bin der Ansicht, dass eine Einordnung weniger wichtig ist als die Ehrlichkeit und die Power, die Musik transportiert.

Kannst du dich und deine Gefühle durch die Songs anders ausdrücken? Sind Lieder für dich ein Ventil?
Heute verwende ich auch schon mein Handy, aber ich habe zum Beispiel alleine zwischen Oktober und Dezember 2011 rund 20 Notizblöcke mit Ideen und Gedanken vollgeschrieben. Ich tue mich bei Interviews irrsinnig schwer, weil ich zu schnell denke, geistig drei Schritte weiter bin und dann über meine Worte stolpere. In meinen Texten habe ich aber die nötige Zeit, kann genau das ausdrücken, was ich fühle und spüre.

Andererseits teilst du deine persönlichen Gedanken mit Menschen, die dir völlig fremd sind. Ist das nicht manchmal etwas hart?
Das kann schon hart sein, aber eher, wenn ich eine Supportshow für jemand anderen spiele. Wenn ich aber der Headliner bin, dann wissen die Leute über mich Bescheid, kennen meine Texte und singen in mein Mikro mit. Ich sage immer, ein Konzert von mir ist unser Konzert. Ein Gig ist nur dann gut, wenn die Energie hin- und herschwappt und nicht einseitig läuft. Ich liebe es, emotional zu sein.

Setzt du dir textlich auch Grenzen, die du aus bestimmten Gründen nicht überschreiten würdest?
Eigentlich nicht. Zumindest bin ich noch nicht an diesem Punkt angelangt. Manchmal schreibt man Texte, weil man bei bestimmten Menschen bestimmte Knöpfe drücken will. Man weiß schon genau, dass sie nicht nur für Zustimmung sorgen, aber das gehört dazu. Ich will aber nicht einfach nur ein Arschloch oder Idiot sein, doch wenn ich das Gefühl verspüre, aus mir muss etwas raus, dann geht das auch raus. Dann denke ich in erster Linie auch nicht über die Konsequenzen nach.

Deine Songs sind immer sehr unmittelbar und gegenwärtig. Fällt es dir manchmal schwer, dich in älteren Texten von dir wiederzufinden?
2017 habe ich einen Song namens „Art Hoe“ veröffentlicht, der zuerst nicht weiter auffiel, aber dann Jahre später plötzlich einen kleinen Hype auf TikTok hatte. Als ich den Song schrieb war ich 20, wollte Mädels aufreißen und einfach live spielen. Ich war eine ganz andere Person und fühle mich eigentlich nicht mehr mit dem Song wohl. Heute bin ich verheiratet, emotional viel stabiler und die Prioritäten im Leben haben sich verschoben. Ich wollte den Song eigentlich nicht mehr spielen, aber jetzt gehört er zu meinen Top-5-Songs auf Spotify. Die Energie der Nummer ist großartig und wenn die Menschen ihn mögen, will ich ihn ihnen nicht vorenthalten. Der Song gehört jetzt den Leuten.

Haben dein stabiles Leben und dein Eheglück direkt Einfluss auf die Art, wie du Texte schreibst?
Ich denke schon. Ich lebe natürlich in gewisser Weise noch immer ein Rockstarleben, aber es geht nicht mehr darum, in die Clubs zu gehen und irgendwas Verrücktes zu machen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Heute gehe ich lieber ins Hotel, nehme ein Bad und klicke mich durch Netflix. Ich habe vor ein paar Jahren Songs wie „Down“ oder „Hotel Sex“ geschrieben. Sie reflektieren jetzt nicht mehr genau mein Leben, aber sie gehören zu mir, das ist auch okay. Ein Song wie „Didn’t You“ entstand schon 2019, wurde aber erst 2022 veröffentlicht. Er ist quasi drei Jahre lang in der Schublade gelegen. Für mein letztes und aktuelles Album „Francis“ hat das aber gepasst, weil der Arbeitsprozess sich sowieso über mehrere Jahre erstreckte.

„Francis“ war ein leicht fiktives Konzeptalbum über dich selbst. Wirst du diese Geschichte künftig weitererzählen? Folgt da noch mehr?
Das nächste Projekt wird definitiv Rock-lastiger werden, ohne dabei aber ganz auf den Hip-Hop zu vergessen. Ich arbeite mit drei verschiedenen Produzenten. Einer hat mit Machine Gun Kelly gearbeitet, ein anderer ist Teil von Ice Nine Kills. Sie sind sehr unterschiedlich, passen aber perfekt zu mir. Ich werde wohl eine EP rausbringen, aber wir werden sehen, was im Endeffekt alles passieren wird.

Heute sind Künstler oft schon mehr Content-Creator denn Musiker an sich, weil die Social-Media-Maschine immer und immer wieder gefüttert werden will. Belastet dich das?
Es ist wirklich hart. Songs wie „Art Hoe“ oder „Rebels“ liefen auf TikTok extrem gut, aber gleichzeitig versuche ich immer zu überlegen, was wohl meine Helden getan hätten. Wenn ich das Gefühl habe, diesen oder jenen Schritt wäre Eminem vor mehr als 20 Jahren nicht gegangen, nur um mehr Konzertkarten zu verkaufen, dann mache ich das auch nicht. Ich will keinesfalls nur die Maschine füttern, damit deshalb ein paar mehr Leute kommen. Am Ende des Tages bin ich ein Künstler mit Zielen und Vorhaben und dazu gehört auch eine gewisse Form der Beständigkeit.

Es ist als junger Künstler eigentlich gar nicht mehr möglich, ohne TikTok zu leben. Und damit einhergehend, ohne sich zu überlegen, wie man einen Song so aufbaut, dass er die Hörer schnell erwischt.
Korrekt, daran führt kein Weg mehr vorbei. Ich habe mit mehr als einer Million Follower auf TikTok die meisten Fans, kämpfe aber auch stark dafür, meine Musik mehr ins Zentrum zu stellen. Viele Acts agieren auf dieser Plattform in einer hochnäsigen Art und Weise und das wird oft auch von Plattenfirmen und Managements mitgetragen. Zu einem gewissen Teil muss man das Spiel mitspielen, aber die Balance muss passen. Alle wollen auf den nächsten Trendzug aufspringen und ich verstehe das, aber es muss eine gesunde Gewichtung haben. Der nächste Trend bringt dir gar nichts, wenn deine Langlebigkeit darunter leidet.

Künstler werden auch zunehmend zu Sprachrohren für eine jüngere Generation, die politisch und gesellschaftskritisch sehr wach und deutlich ist. Kommt dir das zugute und schätzt du das?
Die Welt ist heute ein sehr verwirrender Ort. Jeder, der ein Smartphone oder einen Internetzugang besitzt, kann alles und sofort mitteilen. Ob das, was mitgeteilt wird, wahr oder falsch ist, ist in erster Linie einmal völlig egal. Keiner verbringt mehr über fünf Sekunden bei einem Song und während dem Filmschauen wird im Netz gescrollt. Die Leute wissen gar nicht mehr, wie man gemütlich lebt und auch mal durchatmet. Ich hoffe inständig, dass die Menschen bei meinen Gigs eine Stunde lang abschalten und zuhören können. Ich weiß, dass Machine Gun Kelly oder Yungblud andere Kaliber sind, aber wenn manchmal jemand nach der Show kommt und sagt, meine Musik hätte sein Leben verändert, bedeutet mir das viel. In meinen Texten und auf meinen Gigs werde ich bewusst nicht zu politisch. Ich will auch nicht auf Twitter herum pöbeln, sondern einfach meine Musik für mich sprechen lassen.

Du hast eine extrem hohe Fanbase in Russland, es wird dir aber in absehbarer Zeit nicht möglich sein, dort zu touren und dich weiter zu vermarkten …
Das ist eine Schande. Meine Frau ist aus Russland und ich habe dort viel Zeit verbracht. Das Land ist schön, hat eine tolle Architektur und natürlich sind die meisten Menschen wunderbare Leute. Es ist natürlich schlimm, nicht dort hinzukommen, weil ich dort mitunter meine größten Konzerte hatte. Ob es in einem Jahr wieder geht oder erst in zehn? Man weiß es nicht. Ich hoffe, dass die Welt endlich in Frieden leben kann - ganz generell. Es gibt in Asien oder auch Afrika so viele Konflikte und ich hoffe inständig, dass Musik einen Teil dazu beitragen kann, die Welt friedlicher zu gestalten. Ich habe zum Beispiel einen Song mit der russischen Indierock-Band Three Days Of Rain geschrieben, aber wir können ihn derzeit nicht veröffentlichen. Meine Probleme sind nicht wichtig, aber natürlich sorgt mich die Situation. Ich hoffe für alle das Beste.

Ich möchte noch einmal zu deiner eingangs erwähnten, christlichen Erziehung zurückkommen. Ist die Religion ein wichtiger Aspekt in deinem Leben?
Nicht im klassischen Sinne, dass ich sonntags immer in der Kirche bin. Ich bin katholisch aufgewachsen und in meiner Kirche gab es sogar eine Rockband. Ich glaube an Gott und bete auch gerne mal. Man sollte seinen Gott nicht nur dann anbeten, wenn es einem schlecht geht, aber dort finde ich meinen Frieden. Wenn etwas nicht passt oder es jemandem in meinem Umfeld schlecht geht, dann finde ich den Trost in etwas Höherem.

Was sind die wichtigsten Dinge, die du in den letzten Jahren im Musikbusiness gelernt hast?
Fokussiere dich auf die Musik, darum geht es. Ich habe mich früher viel zu sehr darauf konzentriert, den Rockstar zu markieren. Ich komme aus einer 6000-Seelen-Gemeinde und alle haben von mir erwartet, dass ich jetzt ganz anders zu sein habe. Also habe ich Dinge ruiniert, war hart zu den Mädels und führte mich extrem toxisch auf. Ich wollte jemand sein, der ich gar nicht bin. Ich bin aber älter geworden und sehr gereift, habe viele Bereiche in meinem Leben einfach neu gestartet. Insgesamt war es sicher nicht schlecht, das alles durchlebt zu haben, weil ich davon viel gelernt habe. Ich würde immer noch gerne der größte Rockstar der Welt werden, aber würdevoll und nett. Alle großen Künstler mussten trotzdem großartige Musik veröffentlichen, sonst hätten sie es nie geschafft. Fehler machen wir alle, aber die Musik hilft mir, ein besserer Mensch zu werden. Sie hilft mir, aus meiner eigenen Dunkelheit zu finden und hoffentlich kann ich am Weg auch anderen helfen.

Hast du eigentlich auch mal überlegt, Musik unter deinem echten Namen zu veröffentlichen?
Es gab Zeiten, wo ich das ernsthaft überlegt habe. Call Me Karizma ist mittlerweile mehr eine Band als ein Soloprojekt. Es ist ein bisschen so wie bei Mike Shinoda und Linkin Park. Vielleicht entwickelt sich das Projekt noch weiter, aber wir bekommen gerade sehr viel Aufmerksamkeit und es wäre auch wirtschaftlich dumm, jetzt etwas zu ändern. Als Morgan Parriott kann ich aber ein Side-Project gründen, wann immer mir danach ist. Ich könnte Nirvana-Songs covern oder Akustikzeug aufnehmen. Diese Freiheit habe ich mir freigeschaufelt.

Live am Frequency
Am Freitag, 18. August, ist Call Me Karizma auf der Green Stage beim Frequeny Festival zu sehen. Unter www.frequency.at gibt es noch Karten für das letzte große Festivalhighlight des Sommers. Hier finden Sie auch weitere Informationen zum Künstler und dem Event.

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