Österreichs Gletscherlandschaften verschwinden in einem Tempo, das vor wenigen Jahren niemand für möglich hielt. Der Eiskörper des Tiroler Jamtalgletscher schrumpft jeden Tag - im Durchschnitt um atemberaubende zehn Zentimeter. Experten sind sicher: Die ikonische Hochalpenlandschaft ist auf kurze Sicht nicht mehr zu retten.
„Wir befinden uns in einem neuen klimatischen Regime“, so die Glaziologin Andrea Fischer am Tiroler Jamtalgletscher. Dass die gesamte hochalpine Landschaft um den mittlerweile eher kümmerlichen Rest des einst massiven Eiskörpers in Bewegung ist, wird vor Ort richtig spürbar. Der selbst für die Wissenschaft überraschend rapide Gletscherschwund sollte auch zum Überdenken von Warnsystemen, Katastrophenfonds und Verbauungsmaßnahmen führen, so Fischer.
Wasser- statt Eismassen
Dringt man dieser Tage zum noch vereisten Ende des Jamtales in der Silvrettagruppe vor, wird klar, dass man sich einem Gebiet befindet, in dem sich vieles neu ordnet. So verzeichnete man in der Region Mitte August kleinräumig so massive Niederschläge, die mit jenen des Jahres 2005 vergleichbar sind, als über den Inn abfließende Wassermassen aus den Bergen sogar die Innsbrucker Altstadt bedrohten.
Die aktuellen Wassermassen sorgten etwa für ein großflächiges Abrutschen eines Teils der Seitenmoräne des noch um das Jahr 1850 bis knapp vor die auf 2165 Metern Seehöhe gelegene Jamtalhütte reichenden Gletschers.
Die Bäche, die die Bergflanken in dem Hochtal herabfließen, präsentieren sich dieser Tage deutlich eingefärbt. „Das ist nicht die übliche Farbe“, erklärte die Forscherin vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Innsbruck. Hier wird viel Sediment vom Berg gewaschen. Weiter unten im Tal sind Bagger am Arbeiten, um das Flussbett nach den Massenbewegungen der vergangenen Tage möglichst zu befreien. Was dort oben passiert, kann die gesamte Kraftwerkskette beeinflussen und damit weit in die Täler wirken, so die Glaziologin.
Bildvergleich verdeutlicht Schmelze
Hat man die Bäche überwunden, die ihr Bett für die Expertin offensichtlich zuletzt mehrmals verlegt haben, gelangt man zum Gletschertor, also dem untersten Rand des Eiskörpers. Von der Markierung des Eisrandes am Ende des Sommers 2022 sind es einige Meter bis zu der zerklüfteten Linie, wo sich der Jamtalferner jetzt befindet. 37,5 Meter Längenverlust weist der Gletscherbericht des Alpenvereins von 2021 auf 2022 hier aus - der zweithöchste Wert in der Silvrettagruppe nach dem Ochsentaler Gletscher (43 Meter Verlust).
Bildvergleich 2022/1987:
An den Kanten des Jamtalferners tropft das Schmelzwasser unaufhörlich. Klar zu sehen ist, dass der Eiskörper auch von unten ausgehöhlt wird. Der Gletscherbach präsentiert sich fast tosend - derart massiv ist der Abfluss bei fast 15 Grad Celsius Tagestemperatur.
Fischer kommt in etwa alle 14 Tage hier hinauf: „Es sieht jedes Mal anders aus.“ Die Forscherin und ihr Team begleitet zahlreiche Gletscher in den Ostalpen. Manchmal tue sie sich mittlerweile schwer, sie an ihrer Form zu erkennen, so rasant sind die Veränderungen. Am Jamtalgletscher - einem Referenzgletscher im „World Glacier Monitoring Service“ (Welt-Gletscher-Überwachungsdienst, kurz: WGMS) - ging es zuletzt besonders schnell. „Wir verlieren hier pro Tag um die zehn Zentimeter Eis“, ergab eine aktuelle Messung.
Expertin sicher: „Kurzfristig nicht mehr zu retten!“
Von der Marke, wo der Eiskörper noch 1980 endete, sind es mittlerweile hunderte Meter Luftlinie zum heutigen Ursprung des Gletscherbaches. Der wird sich noch viel weiter nach oben verlegen, bis in rund zehn Jahren mehr oder weniger nichts mehr von dem einst stolzen Gletscher übrig sein wird, schätzt die Glaziologin: „Kurzfristig ist er nicht mehr zu retten. So ist der Gletscher schon jetzt ein Stück Vergangenheit. Er ist ein Schatten seiner selbst und liegt in den letzten Zügen.“ Einzig ein sehr großer Vulkanausbruch, der der Erde viel Abkühlung bringt, könne diese Entwicklung noch bremsen.
Dass es tatsächlich derart rasch gehen kann, wurde erst in den vergangenen Jahren deutlich. Das Ende der Gletscher, dieser für die Alpen so ikonischen Strukturen, mussten die Wissenschaftler gegenüber früheren Prognosen „um mehrere Jahrzehnte“ vorverlegen. Spätestens 2050 werden sie in den Ostalpen Geschichte sein.
In den obersten Bereichen des Gletschers über 3.000 Meter Seehöhe bei den Jamspitzen und dem zwischen Tirol, Vorarlberg und der Schweiz liegenden Dreiländerspitz liegt heuer überhaupt kein Schnee. Früher war er am Ende des Sommers noch zu zwei Drittel seiner Fläche mit Schnee bedeckt, im Herbst waren üblicherweise noch bis zu drei Meter des Winterschnees übrig.
Heute liegen im Winter nur zwischen drei und vier Meter Schnee, der im Sommer restlos abschmilzt. Sommerschneefälle, die die Schmelze früher regelmäßig für mehrere Wochen zum Erliegen brachten, bleiben heute fast ganz aus.
Schwarzes statt blaues Eis
Letztlich habe der Ferner unter diesen Klimabedingungen keine Chance, sich zu regenerieren. Im Gegenteil, er zerbröselt merklich, zerfällt in voneinander getrennte, weiter unten schon sehr schmutzige Eisfelder. In der Folge geht es schnell, erklärte Fischer.
Berichte über derart schmutziges Eis gebe es in der glaziologischen Literatur der 1970er und 1980er Jahre nicht. Da dominierte noch weiß und bläulich schimmerndes Eis sowie auch über weite Teile des Sommers aufliegender Schnee und Firn weiter oben.
Die gefärbte Eisoberfläche taut schneller auf, weil die dunklen Steine sich im Sonnenschein viel stärker erwärmen. Gleichzeitig nagt das abfließende Schmelzwasser von unten am Eis, dessen Zerbrechen sich an den Rändern immer wieder hörbar manifestiert. Diese rapiden Veränderungen könne man als eine Art neue Ära ansehen. Fischer: „Der großflächige Zerfall der Gletscher ist ein neues Phänomen, das wir erst seit drei bis vier Jahren so beobachten.“ Für eine solche „Übergangsphase“ gebe es historisch keine wissenschaftlich aufgearbeiteten Präzedenzfälle.
Politik ist am Zug
Es brauche nun politische Entscheidungen in Absprache mit den Experten, erklärte Fischer. Ein Comeback für die Alpengletscher, vielleicht gegen Ende des Jahrhunderts, könne es jedenfalls nur geben, wenn jetzt echte Klimaschutzmaßnahmen umgesetzt würden.
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