36 Jahre lang arrangierte Mick Harvey an der Seite von Nick Cave bei den Bad Seeds, seit knapp eineinhalb Dekaden wandelt er auf Solopfaden. In der heute 23-jährigen mexikanischen Sängerin Amanda Acevedo fand er vor sechs Jahren die ideale Duettpartnerin. Aus einer losen Freundschaft entstand mit „Phantasmagoria In Blue“ ein Album und eine ganze Tournee. Fortsetzung: wahrscheinlich.
Die Geschichte ist bekannt. Mit Nick Cave gründete der Australier Mick Harvey die Kultbands The Boys Next Door und The Birthday Party, später dann die Bad Seeds. Ganze 36 Jahre lang arbeiteten die menschlich so unterschiedlichen, kreativ aber lange Zeit auf einer Linie wanderten Individuen zusammen, bis Harvey 2009 die Reißleine zog. Nicht nur in puncto Songwriting und Arrangements sei es damals vermehrt zu unüberbrückbaren Differenzen gekommen. Harvey wollte sich auch die Rolle als Band-Manager nicht mehr antun. Die wirtschaftlichen Belange beschnitten seinen Blick auf die eigene kreative Ader, dazu trieb es ihn zunehmend an andere Ufer. Er kuratierte Soundtracks, übersetzte für seine Soloalben Serge-Gainsbourg-Texte, produzierte für Robert Forster oder Anita Lane und arbeitete regelmäßig mit der großen PJ Harvey, die übrigens in keinerlei Verwandtschaftsverhältnis zu Mick steht.
Vom Fan zur Partnerin
Ein Tourstopp mit PJ Harvey im November 2017 in Mexico City leitete schlussendlich auch die Zusammenarbeit mit der hier noch unbekannten Sängerin Amanda Acevedo ein. Beschnuppert haben sich die beiden davor schon online. Die 17-jährige Acevedo hörte den Cave-&-Bad-Seeds-Kultsong „Red Right Hand“, tauchte immer tiefer in Harvey Treiben ein und nahm als Fangirl online Kontakt auf. „Ich wurde später Fan von seiner Soloarbeit, die war nicht so öffentlich und viel geheimnisvoller als die Songs der Bad Seeds“, erzählt sie der „Krone“ im Doppelinterview, „als er mich dann aber zu diesem Konzert in Mexiko einlud, war ich regelrecht schockiert.“ Aus dem ersten persönlichen Kennenlernen entstand eine lose Kommunikationsbasis, die mit Einbruch der Corona-Pandemie aktiviert wurde.
„In den Jahren davor hatte ich mehrere Projekte am Laufen und Amanda hat die Schule fertiggemacht“, erinnert sich Harvey lachend, „als Corona über uns hereinbrach, saß ich in Australien fest und hatte Zeit. Wir haben uns online vernetzt und so kam die Sache ins Rollen.“ Entscheidend war der Moment, als Harvey den Tim-Buckley-Song „Phantasmagoria In 2“ nach Mexiko schickte und Acevedo Begeisterung zeigte. „Ich war extrem begeistert und Mick schickte mir eine Mail zurück, in der er beteuerte, aus diesem Song könnte mehr entstehen als nur ein freundschaftlich-spaßiger Austausch. Von dem Zeitpunkt an nahmen wir das Projekt ernst und auch der Albumtitel war schnell geboren.“ „Phantasmagoria In Blue“ beruht auf drei Säulen: den Buckley-Song, die Vorstellungen und Träume der beiden Musiker und nicht zuletzt das in Frankreich gegründete Horrortheater „Phantasmagoria“, das mittels Projektoren aufgeführt wurde.
Nur Duett-fähige Songs
Harvey hatte kurz Angst, dass die Hörer an Mark Lanegans „Phantasmagoria Blues“ denken würden, wischte den Gedanken aber schnell beiseite. Für die konzeptionelle Mischung aus Feenwesen, Einhörnern, reellen Problemen und alltäglichen Eindrücken griff das Duo in den Topf der Musikhistorie und coverte sich durch Songpreziosen aus der Vergangenheit. Zu finden sind etwa Tim Buckley, Leonard Cohen („You’ve Got Me Singing“) oder Pat Benatar („Love Is A Battlefield“). „Ursprünglich hatten wir noch mehr Songs in petto, aber die haben nicht als Duett funktioniert“, streicht Harvey den Kern des Projekts noch einmal hervor, „wir wollten unbedingt, dass jede Nummer im Duo funktioniert. Nicht als Wechselgesang oder einzeln. Deshalb mussten wir auch viele schöne Songs beiseitelegen, die wir uns ursprünglich überlegt hatten.“
Der Lernprozess fand beidseitig statt. Acevedo wurde von Harvey in die Welt der zuvor genannten Musikgrößen eingeführt, sie wiederum brachte dem Australier etwa den kubanischen Sänger Silvio Rodriguez oder den spanischen Dichter und Liedermacher Luis Eduardo Aute näher, die ebenfalls neu interpretiert wurden. „So funktioniert eine musikalische Kooperation im besten Fall“, erklärt Harvey, „beide lernen vom jeweils anderen dazu und dabei entsteht etwas Neues, noch nicht gehörtes.“ Nach Monaten der künstlerischen Fernbeziehung trafen sich der heute 65-Jährige und die 23-Jährige schlussendlich in Los Angeles, um mit Produzent Alain Johannes in medias res zu gehen. Harvey langjähriger Freund und Top-Gitarrist J.P. Shilo bastelte dann in Melbourne noch Instrumentalpassagen dazu und irgendwann war das lose Konzeptwerk um Sterblichkeit, Liebe, das Rätselhafte des Menschen und die Suche nach dem Sinn gefertigt.
Grenzenlose Neugierde
Dass aus der losen Freundschaft eine dauerhafte Kooperation wurde, war nicht zuletzt der Pandemie zu verdanken. „Ich hatte eine Menge Projekte und sie nach Tagen geordnet“, erinnert sich Harvey zurück, „ich glaube dienstags war immer dieses dran. Irgendwann merkte ich, dass daraus mehr werden könnte und schob die anderen beiseite. Die Zusammenarbeit mit Amanda war ganz anders als alles, was ich bisher machte. Das hat schnell mein Interesse geweckt.“ Die Neugierde hat Harvey auch nach knapp 50 Jahren im Musikbusiness nicht verlassen. „Ich suche immer nach einem anderen Ausdruck, das ist die Essenz von Kunst und Musik. Fühle ich, dass etwas wirklich gut werden kann, habe ich dieselbe Begeisterungsfähigkeit wie in meinen 20ern. Ich liebe dieses aufregende Gefühl, wenn man merkt, dass etwas funktioniert. Das passiert auch bei Livekonzerten, aber am Ende brauche ich beide Welten. Die auf der Bühne und die kreative im Studio.“
„Phantasmagoria In Blue“ ist ein gemütliches, aber nicht revolutionäres Projekt zweier Musikliebhaber, die sich während des Prozesses spürbar angenähert und schlussendlich gefunden haben. Live haben sich die beiden schon im Frühling ausprobiert, u.a. im Wiener Porgy & Bess und im Grazer ppc. Acevedos Stimme hielt dabei nicht immer, was sie auf Tonträger verspricht, die Spielfreude und Frischzellenkur für Harveys Kunstverständnis war der ambitionierten Band aber stets anzumerken. Weitere Live-Dates sind noch ausständig, eine Fortsetzung des Projekts können sich aber beide vorstellen. „Dann aber ganz anders“, betont Harvey, „denn ich bin kein Fan davon, von irgendwas einen Teil 2 zu machen. Amanda wird mir schon sagen, was sie gerne machen möchte. Ich freue mich, nach all den Jahren noch etwas so Spannendes zu erleben.“ Acevedo stellt sich für die Nachfolge mehr Eigenkompositionen vor. „Schauen wir was passiert, aber anstatt, wie hier, hauptsächlich auf Cover-Songs zu setzen, würde ich sie eher nur hinzufügen.“ Generationsübergreifende Kreativität ist jedenfalls möglich - hier der Beweis.
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