„Everything Is Alive“

Slowdive: Shoegaze-Legenden entzünden das Licht

Musik
02.09.2023 09:00

Sechs Jahre nach ihrem letzten Studioalbum und neun Jahre nach ihrem Überraschungscomeback zeigen die britischen Shoegaze-Pioniere Slowdive, dass sie noch immer zeitgemäße und mutige Musik erschaffen können. Ihr fünftes Studioalbum „Everything Is Alive“ wagt den Sprung in den Pop und kämpft gegen die Tristesse des Alltags an. Durchaus erfolgreich.

(Bild: kmm)

Zu den grassierenden Ungerechtigkeiten der Popkultur gehört, dass große Bands und Künstler immer wieder unter ihren Wert geschlagen wurden. Manche waren schlichtweg zu lasch in der Selbstvermarktung, andere umgaben sich mit wirtschaftlichen Scharlatanen und Blutsaugern, wiederum andere erwischten einfach den falschen Zeitpunkt. Als sich 1989 im britischen Reading ein paar junge Menschen Slowdive tauften, waren sie stark von Sonic Youth inspiriert und etablierten gemeinsam mit den düsteren Kollegen von My Bloody Valentine das Genre Shoegaze. Bekannt dafür, düsteren Pop mit psychedelischen Elementen und Noise-Rock-Gitarren zu vermischen und sich selbst und den Zuhörer in eine Art schuhstarrende Trance zu versetzen. Die Wahrheit dahinter ist freilich, dass man sich ob der musikalischen Darbietung auf seine Gitarren-Effektgeräte konzentrieren muss und daher nicht den tanzenden Hampelmann geben kann.

Noch immer was zu sagen
Mit dem Zweitwerk „Souvlaki“ gelang dem Quintett 1993 ein anfangs völlig missverstandenes und verrissenes Meisterwerk, das erst Jahre später als Kultstück verstanden und dementsprechend geadelt wurde. „Pygmalion“ folgte 1995 und war durchzogen von experimentellen Gitarrenlinien und kruden Ideen. Ein spannendes Unterfangen, das aber direkt in die grassierende Britpop-Welle geriet. Dunkle Musik war damals so tot wie der Hard Rock zu Beginn der Grunge-Welle, desillusioniert gaben Slowdive auf und verschwanden für fast 20 Jahre in der Versenkung. 2014 gab es ein umjubeltes Comeback beim Indie-Festival-Mekka Primavera. Eine 20 Shows umfassende Tour quer über den Globus festigte die Feststellung, dass Slowdive kein hoch bezahltes Reunions-Gimmick sind, sondern wirklich noch mit Spielfreude und Qualität zu überzeugen wissen. 2017 folgte nach 22 Jahren das selbstbetitelte Comebackalbum, mit dem man Kritiker und Fans enthusiasmierte und vor allem bewies - für künstlerische Progression ist es nie zu spät.

Wann und ob es überhaupt ein fünftes Werk geben sollte, das ließ die Band lange offen. Hauptsongwriter Neil Halstead experimentierte einstweilen mit Synthesizern und neuen technischen Errungenschaften. Geplant waren die an Minimal Electronic angelehnten Stücke für ein potenzielles Soloalbum, doch Anfang 2020 entschied er sich doch dafür, bei der Kollegenschaft Feedback für ein Bandalbum einzuholen. Rachel Goswell und Co. waren interessiert, aber von der stilistischen Abweichung auch so entsetzt, dass sie sich an die Aufnahmen setzten und die klassischen Gitarrenwände dazu komponierten. Frei nach dem Motto: Wir können gerne über das Material reden und ein neues Album andenken, allerdings weichen wir nicht zu stark von unserer bekannten Marke ab. Mit der Markenpflege war Demokrat Halstead schnell einverstanden. Das Teamwork in der Band funktioniert auch nach mehr als 30 Jahren noch herausragend gut.

Licht im Dunkel
Die musikalische Weiterentwicklung ging bei Slowdive Hand in Hand mit persönlichen und weltlichen Krisen. 2020 musste man wegen Einbruch der Pandemie nicht nur den gemeinsamen Studioaufenthalt um ein halbes Jahr verschieben, Goswell verlor auch noch ihre Mutter und Drummer Simon Scott seinen Vater. Dazu bröckelte Großbritannien noch ein bisschen mehr als der Rest Europas. Dem Rechtsruck und der Existenzen bedrohenden Brexit-Entscheidung folgte eine politische Pattstellung durch alle Parteien und eine Inflation, die sich gewaschen hatte. Doch gerade aufgrund der vielen Dramen, Rückschläge und Verfehlungen im Mikro- und Makrokosmos entschied man sich im Slowdive-Camp relativ schnell, musikalisch etwas mehr Licht beizusteuern. „Everything Is Alive“ ist also mehr Mantra als Durchhalteparole und dient als Wegweiser in eine hoffentlich glänzendere Zukunft.

Was sich vor sechs Jahren auf „Slowdive“ schon verstärkt angedeutet hat, wird auf dem neuen Werk vollends entfaltet: der Mut zur Eingängigkeit. Mit der im Frühling vorgestellten Single „Kisses“ wagen sich die Briten gar in astreine Dream-Pop-Gefilde und lassen jegliche Form von Verzerrung oder Dissonanz außen vor. Diese bewusst positive und fröhliche Grundausrichtung wird den 90er-Jahre-Hardcore-Fans nicht unbedingt gefallen, zeugt aber vom Mut zur Veränderung und Entwicklung einer Band, die sich im Wahn der Nostalgie auch locker hätte auf die Erfolge der Vergangenheit berufen können. Neben diesem fast schon magischen Pop-Song wissen auch Tracks wie „Prayer Remembered“ oder „Alife“ mit einer interessanten Mischung aus sanfter Melancholie und prägnanter Hoffnung zu überzeugen. „Everything Is Alive“ gelingt das seltene Kunststück, Trauerverarbeitung und gegenwärtige Fröhlichkeit in 40 Minuten so zu verknüpfen, dass man als Hörer unentschlossen zwischen den unterschiedlichen Emotionen umher watet.

Keine Angst vor dem Bruch
Vor allem jüngere Fans werden andere Bands im Slowdive-Soundkosmos erkennen. Man hört bei Tracks wie „Skin In The Game“ oder dem abschließenden „The Slab“ sehr deutlich heraus, woher die immer noch boomenden Cigarettes After Sex die Blaupause für ihr eigenes Soundkonstrukt hergeholt haben. Slowdive indes müssen sich nicht zwingend mit ihren Nachfolgern messen, sondern tun das einzig Richtige und gehen wagemutig auf einem Pfad voran, der Vergangenheit und Gegenwart umfasst und dabei klanglich auch in die Zukunft blickt, weil sie sich nicht davor fürchten, in den richtigen Momenten mit der eigenen Rückschau zu brechen. Die Mischung aus der experimentellen Vergangenheit und der eingängigeren Gegenwart verlangt nach einer Europatour. Vielleicht tut sich diesbezüglich 2024 was - heuer kommt man nicht weiter als nach Großbritannien rüber.

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