„Wie viele Opfer?“

Libyscher Arzt bricht vor TV-Kamera in Tränen aus

Ausland
14.09.2023 13:12

Die Zahl der Todesopfer in den Überschwemmungsgebieten in Libyen könnte Befürchtungen zufolge noch sehr deutlich steigen. Besonders grauenhaft ist die Lage in der Hafenstadt Darna. Der Bürgermeister geht von 18.000 bis 20.000 Todesopfern aus. Leichenhallen platzen jetzt schon aus allen Nähten. Rettungskräfte und medizinisches Personal sind vollkommen überfordert, wie auch ein Interview mit einem Arzt im libyschen Fernsehen zeigt. Der Mann ist mit den Nerven am Ende und bricht in Tränen aus, als er nach den jüngsten Opferzahlen gefragt wird.

„Unsere Familien und Brüder, die Opferzahlen sind hoch“, erklärt der Mediziner vor laufender Kamera. Daraufhin fragt ein Reporter: „Wie hoch? Geben Sie uns bitte eine Zahl!“ Auf diese Frage hin beginnt der Arzt zu schluchzen und dreht sich weg. Ein Kollege läuft zu ihm hin und tröstet den völlig aufgelösten Mann. Sekundenlang umarmt ihn der Kollege, während die Reporter warten und hoffen, auf ihre Frage eine Antwort zu erhalten.

Vermisst oder tot? Angehörige suchen nach ihren Familienmitgliedern. (Bild: APA/AFP/Al-Masar TV)
Vermisst oder tot? Angehörige suchen nach ihren Familienmitgliedern.

Nach einer kurzen Unterbrechung kehrt der Arzt zurück. „Sind es schon 10.000 Opfer?“, will ein Journalist wissen. Der Arzt schüttelt nur den Kopf und meint: „Mehr, mehr.“

Hier sehen Sie die emotionalen Szenen aus dem libyschen Fernsehen:

Der Sturm „Daniel“ hatte am Sonntag das nordafrikanische Land erfasst. Nahe Darna brachen zwei Dämme, ganze Viertel der Küstenstadt wurden ins Meer gespült. Straßenzüge sind in meterhohem Schlamm versunken, Rettungsteams suchen in den Trümmern weiter nach Überlebenden. Doch die Hoffnung, Menschen lebend zu finden, schwindet. Videos in sozialen Medien zeigen Fahrzeugkolonnen, die Tote abtransportieren, auf anderen Aufnahmen treiben Leichen im Meer. Geborgene Opfer wurden in Leichensäcken in Massengräbern verscharrt. Auch in anderen Teilen des Bürgerkriegslandes herrscht weiter der Ausnahmezustand.

Derzeit kämpfen zwei verfeindete Regierungen in Libyen - eine mit Sitz im Osten, die andere im Westen - um die Macht. Alle diplomatischen Bemühungen, den bis heute andauernden Bürgerkrieg friedlich beizulegen, scheiterten bisher. Zahlreiche Konfliktparteien ringen um Einfluss, nachdem Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi 2011 gewaltsam gestürzt worden war.

Katastrophe auch mit politischer Situation verknüpft
Laut dem Libyen-Experten Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin ist die Katastrophe in dem Land auch mit der politischen Situation verknüpft: „Der Grund für das Ausmaß der Katastrophe ist der Bruch dieser zwei Dämme oberhalb von Darna.“ Jahrelang sei dort nicht ausreichend in die Infrastruktur investiert worden. Der frühere libysche Machthaber Gaddafi habe „die Stadt dafür bestraft, dass in ihr Aufständische die Waffen ergriffen hatten“. Zwar sei in den vergangenen Jahren immer etwas Geld geflossen, „aber das ging unter anderem in die Taschen von Milizenführern und Kriegsprofiteuren“.

Die Mehrzahl der Todesopfer hätte nach Ansicht der UNO vermieden werden können. Dafür wären ein funktionierendes Warnsystem vor der drohenden Katastrophe sowie ein besseres Krisenmanagement notwendig gewesen, erklärte am Donnerstag die UNO-Weltwetterorganisation WMO. Wenn es in dem von jahrelangem Bürgerkrieg zerrütteten Land eine bessere Koordination gegeben hätte, dann hätten Warnungen ausgegeben und die Bevölkerung evakuiert werden können, sagte WMO-Vertreter Petteri Taalas.

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