Selenskyj auf US-Tour
Die wichtigsten Tage seiner Amtszeit kommen erst
Wladimir Putins Krieg stellt den gesellschaftlichen Frieden mit jedem Tag, der vergeht, härter auf die Probe. Wolodymyr Selenskyj kämpft deshalb nicht nur an der ukrainischen Front um das Überleben seiner Nation. In den kommenden Tagen geht es in Washingtoner Hinterzimmern für die Ukraine tatsächlich um Sein oder Nichtsein. Eine Analyse.
Der ukrainische Präsident sprach am Dienstag seit Kriegsbeginn zum ersten Mal persönlich vor den Vereinten Nationen in New York. In gewohnter olivgrüner Montur und Tonalität. Die emotionale Rede kennzeichnet jedoch nur den Auftakt seiner bisher wichtigsten Auslandsreise. In seinem Kalender dürften andere Termine noch dicker angestrichen sein.
Nach der UNO-Versammlung reist Selenskyj nach Washington D.C. - um für seine Sache zu lobbyieren.
Selenskyj kündigte seine Tour auf der Plattform X (vormals Twitter) an:
In den Hinterzimmern des US-Kongresses wird er um die Zukunft seines Landes kämpfen. Klingt hochtrabend, ist aber die beinharte Realität. Weite Teile der US-Republikaner, die ihn im vergangenen Jahr noch mit stehenden Ovationen empfingen, haben sich von Selenskyj abgewandt. Warum? Im Präsidentschaftswahlkampf rechnen sie sich damit bessere Chancen aus.
Putin und Trump - ziemlich beste Freunde
Für die Ukraine ist das ein wahres Alptraum-Szenario. Ihr mit Abstand wichtigster Verbündeter könnte sich nach der US-Wahl im November 2024 in Luft auf- und einen Dominoeffekt auslösen. Ohne die USA würde die restliche westliche Welt wohl ebenfalls kürzertreten. Die Gegenoffensive der Ukraine ist dementsprechend auch ein Wettlauf gegen die Zeit.
Alles, was mit Trump passiert, ist eine politisch motivierte Verfolgung eines politischen Rivalen.
Wladimir Putin
Bild: AFP
Donald Trump und seine innerparteilichen Konkurrenten um die Präsidentschaftskandidatur versuchen sich derweil in ihrer Feindseligkeit gegenüber der ukrainischen Zivilbevölkerung zu übertreffen. Da wird von „Stellvertreterkriegen“ und „Ressourcenverschwendung“ gesprochen. Der Kreml beobachtet die Situation mit Wohlwollen. Wladimir Putin nutzte jüngst die Chance, die Stimmung weiter aufzuheizen.
Der Imperialist schreibt Trumps Justizprobleme Joe Biden zu, gegen den die Republikaner ein Amtsenthebungsverfahren anstreben: „Alles, was mit Trump passiert, ist eine politisch motivierte Verfolgung eines politischen Rivalen. So ist das.“
Selenskyjs Rhetorik hilft nicht immer
Wie soll sich Selenskyj gegen diese unheilige Allianz verteidigen? Er verglich den Kremlchef im Vorfeld der UNO-Generaldebatte mit Adolf Hitler: „Sie haben ihn gewählt und wiedergewählt und einen zweiten Hitler herangezogen“, erklärte er dem Sender CBS. Sollte Putin nicht aufgehalten werden, prophezeit er einen Dritten Weltkrieg.
Damit dürfte er den falschen Ton getroffen und kontraproduktive Bilder in den Köpfen der US-Amerikaner erzeugt haben, die zunehmend kriegsmüde sind. Der Rückhalt für Waffenlieferungen an die Ukraine bröckelt. Eine CNN-Umfrage zeigt das eindrücklich: Eine knappe Mehrheit von 55 Prozent der Befragten spricht sich mittlerweile dagegen aus, dass der US-Kongress weitere Mittel zur Verfügung stellt.
Unter Republikanern sind es sogar 71 Prozent. Die USA hätten nach dem Eindruck dieser Menschen genug für den Fortbestand der Ukraine getan.
Biden: behutsam und entlarvend zugleich
Biden ist um einiges behutsamer in der Ansprache dieser Wählergruppe und bemüht, das Bild einer besseren Zukunft ohne Putin zu zeichnen. Er rief in seiner Rede vor den Vereinten Nation dazu auf, zusammenzustehen. „Keine Nation kann die Herausforderungen von heute allein bewältigen.“
Der US-Präsident machte deutlich, dass die Geschichte nicht zwangsläufig unsere Zukunft spiegeln müsse und erinnerte an seinen jüngsten Besuch in Vietnam. „Aus Gegnern können Partner werden, überwältigende Herausforderungen können gelöst werden, und tiefe Wunden können heilen“, mahnte der 80-Jährige. Die Vereinigten Staaten strebten eine sicherere, wohlhabendere und gerechtere Welt für alle Menschen an. „Denn wir wissen, dass unsere Zukunft an die Ihre gebunden ist.“
Biden kommt ohne brachiale Hitler-Vergleiche und Weltkriegsszenarien aus und schafft es dennoch besser als Selenskyj, die drastischen Konsequenzen einer ukrainischen Niederlage zu verdeutlichen. Mit wenigen Worten legt der US-Präsident offen, worauf sein russischer Amtskollege Putin baut: Kurzsichtigkeit, in Zeiten, die einen langen Atem erfordern.
Die Dauerkrise als Zermürbungstaktik
„Die Russen wollen den Krieg verlängern, die Kosten hochtreiben“, erklärte der US-Militäranalyst Michael Kofman jüngst dem „Spiegel“. Der politische Wille im Westen soll erschöpft werden. Die Taktik trägt bereits Früchte.
Kaum etwas zermürbt eine Gesellschaft so, wie ständig einer Krise ausgesetzt zu sein. Putin liefert sie gleich in mehrfacher Ausführung - tagein, tagaus. Der Imperialist lässt Energie- und Lebensmittelkosten in die Höhe schnellen, vertreibt Menschen aus ihrer Heimat und schürt Kriegsängste. Das Durchbrechen dieser provozierten Negativspirale erfordert langfristige Gegenperspektiven, die glaubhaft vermitteln, dass es ohne Putin besser sein kann als mit ihm.
Gelingen tut das aktuell nicht.
Rechte auf dem Vormarsch
Rechte Parteien nehmen das Sprungbrett, das ihnen der Autokrat liefert, dankend an. In Europa lässt sich das in Zahlen belegen. Rechte Parteien erleben einen regelrechten Aufschwung. In ihren nationalistischen Herangehensweisen eint sie vor allem eines: Sie liefern simple Antworten auf komplexe Fragen, wie die „Krone“ kürzlich analysierte.
Hierzulande hechelt die türkis-grüne Koalition der Teuerung hinterher und findet keine glaubwürdigen Antworten auf die Abhängigkeit von Putins Gas. Die FPÖ führt die Umfragen mittlerweile mit deutlichem Vorsprung an (siehe Tweet).
Also jene Partei, die sich geschlossen aus dem Staub gemacht hat, als Selenskyj Ende März zu den österreichischen Nationalratsabgeordneten sprach. Jene Partei, die Sanktionen gegen einen Kriegsherren aufheben will. Jene Partei, die die „Festung Österreich“ einzäunen will, jene Partei, die den „Volkskanzler“ stellen und das „letzte Bollwerk der Normalität“ sein will.
Schreckgespenst Trump
Sollte es Selenskyj in den kommenden Tagen in den Washingtoner Hinterzimmern nicht gelingen, einen Großteil der Republikaner wieder für seine Sache zu gewinnen, könnte das im wahrsten Sinne existenzielle Auswirkungen auf die Ukraine haben. Denn Putin setzt darauf, dass bald andere Gesichter am Verhandlungstisch Platz nehmen.
Trump hat bereits vollmundig angekündigt, den Krieg in der Ukraine „innerhalb von 24 Stunden“ beenden zu können, sollte er wiedergewählt werden. Ohne innerparteilichen Widerstand wird er das auch tun.
Dann leben wir wieder in einem Europa, in dem Staatsgrenzen gewaltsam verschoben werden - und liefern eine Blaupause für einen gewissen Xi Jinping, der das in Peking mit Spannung verfolgen dürfte.
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