Plötzliche Eiszeit
Polen/Ukraine: Ein Satz wird Narben hinterlassen
Einbestellte Botschafter, gegenseitige Schuldzuweisungen, eingestellte Waffenlieferungen: Zwischen Polen und der Ukraine kracht es gehörig. Was sich seit Wochen aufbaut, gerät zunehmend außer Kontrolle - inklusive persönlicher Verletzungen, die Narben hinterlassen werden.
Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj stehen nebeneinander auf einer Bühne im deutschen Aachen. Sie lächeln, umarmen sich brüderlich und schmeicheln einander durch Lobeshymnen.
Die beschriebene Szene fand vor vier Monaten statt, als Selenskyj der Karlspreis überreicht wurde - für seine Verdienste für ein geeintes Europa. Polens Solidarität gegenüber der Ukraine schien einzementiert. Morawiecki holte in seiner Laudatio das große Besteck heraus: „Die Ukraine ist heute der äußerste Vorposten eines geeinten Europa. Die Ukraine verteidigt unsere Freiheit an Europas Grenzen.“
Wenn Diplomatie zum Theater wird
Die Stärke der europäischen Zivilisation beruhe auf Zusammenarbeit: „Das Fundament ist die Solidarität, und die treibende Kraft und das Herz Europas ist der Wunsch nach Freiheit“, betonte Morawiecki mit einer Vehemenz, die unerschütterlich schien.
Wir spulen einige Monate vor.
Mittwochabend verbreiten Nachrichtenagenturen folgende Aussage des polnischen Premiers: Seine Regierung will keine Rüstungsgüter mehr an den Nachbarn liefern - stattdessen sich selbst mit „modernsten Waffen“ ausstatten. Was versprochen wurde, wird geliefert, danach ist Schluss, präzisierte ein Sprecher am Donnerstag.
Ein Ertrinkender ist sehr gefährlich, denn er kann dich mit sich in die Tiefe ziehen.
Der polnische Präsident Andrzej Duda
Bild: AFP
Wenige Stunden vor Morawieckis Aussage trat Selenskyj bei der UNO-Vollversammlung in New York auf. Er wirft einigen EU-Ländern - und meint damit offensichtlich Polen - „politisches Theater“ vor, das nur dem Kreml helfe. Warschau ist erzürnt, bestellt den ukrainischen Botschafter ein. Und dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda rutscht ein Satz heraus, der in Kiew wohl noch lange nachhallen wird.
„Ein Ertrinkender ist sehr gefährlich, denn er kann dich mit sich in die Tiefe ziehen.“ Will man den „äußersten Vorposten“ plötzlich ersaufen lassen? Was ist hier passiert?
Getreide, Wahlen und Embargos
Die Antwort ist vertraut: Es geht um Geld und Wählergunst. Seit vergangenem Freitag sind die EU-Beschränkungen für die Ausfuhr von ukrainischem Getreide über den Landweg aufgehoben. Wegen des laufenden Krieges ist der gewohnte Export auf dem Seeweg aus den ukrainischen Schwarzmeerhäfen beinahe zum Erliegen gekommen.
Doch an drei Ländergrenzen blitzt die Ukraine noch immer ab. Polen, Ungarn und die Slowakei lassen kaum Getreide ins Land - und spielen damit indirekt Russlands Präsident Wladimir Putin in die Hände. Der Kreml versucht durch die Bombardierung ukrainischer Häfen, den Getreideexport - eine der wichtigsten finanziellen Lebensadern der Ukraine - ausbluten zu lassen. Wenn über den Landweg ebenfalls wichtige Partner wegfallen, geht der Plan tatsächlich auf.
Polen und andere Länder befürchten durch die Einfuhr des ukrainischen Getreides, das deutlich billiger ist, einen enormen Wettbewerbsnachteil für die eigene Landwirtschaft. In Polen stehen Mitte Oktober Parlamentswahlen an. Politologen erwarten ein knappes Rennen zwischen dem rechten Lager um Ministerpräsident Morawiecki (PiS) und der liberalkonservativen Opposition um den ehemaligen Regierungschef Donald Tusk (Bürgerplattform).
Deutschland sieht „Teilzeitsolidarität“
Landwirte sind eine wichtige Wählergruppe der rechtsnationalen PiS-Regierung. „Wir schützen die polnischen Landwirte“, sagte Morawiecki kürzlich. Die Blockade sorgt mittlerweile auch bei anderen Partnerländern für Verstimmung. Deutschlands grüner Landwirtschaftsminister Cem Özdemir hat den Regierungen in Warschau, Budapest und Bratislava bereits „Teilzeitsolidarität“ vorgeworfen.
Kommt es also wirklich zum Bruch mit der Ukraine? Oder ist wirklich alles nur ein riesiges „Theater“? Polen war immerhin die erste Nation, die Kampfjets an ihren Nachbarn lieferte. Die südostpolnische Stadt Rzeszow ist zudem ein wichtiges Drehkreuz für westliche Waffenlieferungen in die Ukraine.
Morawiecki ist hier um Schadensbegrenzung bemüht. „Unser Drehkreuz in Rzeszow erfüllt in Absprache mit den Amerikanern und der NATO weiterhin dieselbe Rolle wie bisher und wird dies auch weiterhin tun“, sagte er am Mittwoch.
Wie geht es weiter?
Andernorts wird ebenfalls Wert darauf gelegt, das „Missverständnis“ auszuräumen. „Auch Spitzenpolitiker sind nur Menschen und unterliegen verschiedenen Druckausübungen. Selenskyj steht unter einem permanenten Druck und, wenn wir in seiner Position wären, würden wir vielleicht den Verstand öfter als er verlieren“, meinte Tschechiens Präsident Petr Pavel laut der Nachrichtenagentur CTK.
„Irgendeine stärkere Aussage muss man nicht unbedingt buchstäblich nehmen“, fügte er hinzu. Der ukrainische Agrarminister Mykola Solskyj telefonierte am Donnerstag mit seinem polnischen Kollegen Robert Telus, wie die Regierung in Kiew mitteilte. Sie seien übereingekommen, eine Lösung zu finden. Wie die aussieht, ist aber unklar. Von der ukrainischen Regierung ist bloß zu hören: Man habe einen „konstruktiven“ Vorschlag unterbreitet.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Ukraine vor wenigen Tagen eine Klage gegen die drei EU-Staaten bei der Welthandelsorganisation eingebracht hat. Die Eskalation zeigt teilweise Wirkung. Die Slowakei wird ihren Importstopp für ukrainisches Getreide beenden.
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