„Hackney Diamonds“

Rolling Stones: Das Rock-Comeback des Jahres

Musik
06.10.2023 00:01

18 Jahre nach ihrem letzten richtigen Studioalbum „A Bigger Bang“ veröffentlichen die Rolling Stones am 20. Oktober „Hackney Diamonds“. Das neue Werk ist gleichermaßen Frischzellenkur wie Rückbesinnung auf die alten Zeiten und den echten Rock‘n‘Roll. Wir durften vorab hineinhören und sind restlos begeistert.

(Bild: kmm)

In Zeiten der allgemeinen Verfügbarkeit, der musikalischen Reizüberflutung und der sinkenden Aufmerksamkeitsspannen passiert es so gut wie gar nicht mehr, dass man sich von einem Produkt herunterholen lässt und kurz andächtig stillsitzt, um sich ebenjenem in voller Konzentration zu widmen. Wenn aber die älteste, größte und ohne Zweifel coolste lebende Band der Rockgeschichte mit einem brandneuen Album lockt, dann lässt man gerne einmal alles stehen und liegen, um diese Nachricht in Ruhe richtig einzuordnen. Und während die jüngere Generation rund um Beyoncé oder Frank Ocean neues Material oft ohne Vorankündigung über Nacht in den Orbit schießt, luden die Rolling Stones Anfang September auch noch zu einer hochoffiziellen Pressekonferenz in London. Mit Jimmy Fallon als Host. Mit rund 200 geladenen Gästen aus allen Teilen der Welt. Mit einem üppigen Livestream für alle Auswärtigen. Musikbusiness, wie es früher einmal war.

Unerwartet, aber genial
Die Rolling Stones machten sich rund um ihren 80er sogar den Spaß, ihr brandneues Album „Hackney Diamonds“ als Zeitungsannonce für eine Glaserei in der „Hackney Gazette“ zu schalten. Draufgekommen ist für sehr lange Zeit so gut wie niemand und man konnte sich ausmalen, wie die honorigen Herren mit dem Schabernack-verstärkten Geist von Teenagern sich im Studio ins Fäustchen lachten. Diese Mischung aus Leichtigkeit und juveniler Frische durchzieht das zwölf Songs starke neue Werk, mit dem die Stones Ende diesen Sommer die ganze Welt überraschten. Ja, 2012 gab es die Compilation „GRRR!“ mit den neuen Songs „Doom And Gloom“ und „One More Shot“, es gab 2016 das Blues-Coveralbum „Blue & Lonesome“, dann 2020 die Reggae-lastige Corona-Hymne „Living In A Ghost Town“ und eine fette Europatour samt Happel-Stadion-Aufenthalt. Mit einem Spätwerk der rollenden Steine, einer opulenten Ansammlung frisch geschriebener Tracks, hat trotz allem kaum noch jemand gerechnet.

Mit dem ersten Werk seit „A Bigger Bang“ 2005 stoßen die Stones auch die Tür zum bunten Karrierequerschnitt weit auf. Nach mehr als 60 Jahren Musikhistorie war klar, dass sich Mick Jagger, Keith Richards und Ronnie Wood klanglich nicht mehr neu erfinden werden, so ist die zwölf Songs starke Werkschau ein buntes Potpourri aus Stones-Stärken verschiedenster Karrierephasen. Auf zwei Songs übrigens auch noch mit dem verstorbenen „Sir“ der Band, Drummer Charlie Watts. Er ist auf dem funkig-lockeren „Mess It Up“ und dem etwas bluesigeren „Live By The Sword“ zu hören. Auf letzterem Track leitet Watts den Song mittels Einzählens ein - eine wunderschöne und humorig-emotionale Geste seiner langjährigen Freunde und Wegbegleiter, die ihm durchaus zurecht zur Ehre gereicht. Jagger und Richards haben, wie gewohnt, so gut wie alle Songs in Co-Partnerschaft geschrieben, dem angesagten Andrew Watt wurde die Ehre zuteil, für die Produktion zu sorgen und sich bei ein paar Liedern Songwriting-Credits abzuholen.

Rock’n’Roll ohne Rücksicht
Schon bei Veröffentlichung der ersten Single „Angry“ vor exakt einem Monat kamen die Fans ins Jauchzen. Ein eiskaltes Rock-Riff von Keith Richards, ein vor dem geistigen Auge schlangenartig tanzender Mick Jagger, der mit mittlerweile handgezählten 80 Jahren noch mal den größten Rockmund der Welt öffnet und das tighte Schlagzeugspiel von Watts-Nachfolger und -Freund Steve Jordan erinnern tatsächlich unpeinlich an die zügellose Frische der 60er-Jahre-Stones. Im dazugehörigen Video fährt die Emmy-nominierte Sydney Sweeney im Mercedes durchs sonnige Los Angeles und lässt Roadmovie-Gefühle aufkommen. Freiheit, Sex und Rock’n’Roll - die Stones lassen sich auch nicht von den Bremsklötzen der politischen Korrektheit in Geiselhaft nehmen, sondern zelebrieren das Leben in höchster Ausführung.

Die Reise durch die knapp 50 Minuten Musikvergnügen schlägt alle Haken und Kurven, die die Band in den letzten Dekaden genommen hat. „Get Close“ baut nach dem flotten Grundrhythmus ein zeitloses Saxofon-Solo ein, „Depending On You“ geht erstmals vom Gas und zeigt die balladeske Seite der Band, bei „Dreamy Skies“ teilt sich Jagger das Mikro mit seinem Buddy Richards und rückt in die Country- und Honkytonk-Ecke. Nur die süßliche Ballade „Driving Me Too Hard“ geht ein bisschen zu stark in die Kitschecke, ansonsten ist das Stammtrio samt Gästeschar über alle Zweifel erhaben. Herausragend ertönt ist das fast achtminütige Prachtstück „Sweet Sound Of Heaven“, das mit einer markanten Gospel-Kante und dem Wechselgesang von Mick Jagger mit Lady Gaga das vielleicht beste Lied ist, das die Stones seit den frühen 70er-Jahren geschrieben haben. Leidenschaft, Gefühl und Pathos treffen hier auf authentische Ursprünglichkeit und kompositorische Finesse.

Creme de la Creme
Kurz vor diesem Album-Höhepunkt darf Keith Richards seinen durchwachsenen Gesang auf „Tell Me Straight“ ausüben und zeigt, dass im Gegensatz zu seiner nonchalant-kauzigen Lässigkeit im echten Leben beim Gesang am besten die balladeske Sanftmut zu ihm passt. Dazu die erwähnte Gästeliste: Beatle Paul McCartney spielt Bass, Sir Elton John zweimal Piano, Bill Wyman ist wieder dabei und selbst Stevie Wonder, von dem seit gut zehn Jahren fast gar nichts mehr zu hören ist, kommt, wenn die Steine rufen. Am Ende ist das ausleitende Muddy-Waters-Cover „Rolling Stone Blues“ ein geschickter Schachzug mit kryptischer Note. Ist es nur eine Ehrerbietung an den legendären Delta-Blues, nach dem sich die Band (und auch das Magazin „Rolling Stone“) angeblich benannt haben? Ist es als Closer des Albums tatsächlich ein alles abrundender Abgesang auf die größte Karriere der Rockgeschichte? Oder narren uns Jagger, Richards und Wood wieder einmal mit ihrem britisch-flippigen Humor? Wir werden es sehen. Vorher genießen wir aber ihr bestes Album seit den 70ern und hoffen einmal mehr, dass sich 2024 oder 2025 doch noch eine Österreich-Show ausgeht …

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