Die aktuelle Neuproduktion des Theaters an Wien im MQ gilt Händels Oratorium „Theodora“. Bejun Mehta, der in Wien bestens bekannte und vielfach gefeierte Countertenor, debütiert dabei als Operndirigent. Die „Krone“ traf ihn zum Gespräch und erfuhr, was ihn am christlichen Märtyrer-Stoff heute noch interessiert, wie er zum Dirigieren kam und warum er demnächst in Wien wohnt.
„Die Juden werden nicht kommen, weil es eine christliche Geschichte ist, und die Damen werden nicht kommen, weil es eine tugendhafte Geschichte ist…“, soll Georg Friedrich Händel (1685-1759) gesagt haben, als er einen drohenden Misserfolg seines Oratoriums „Theodora“ befürchtete. In dem Werk geht es um die frühe Christin Theodora, die im antiken Antiochia (heute Antakya in der Türkei) in der heutigen Türkei während der römischen Besatzung ihrem christlichen Glauben nicht abschwören möchte. Sie wird eingesperrt und soll zur Prostitution gezwungen werden. Der römische Offizier Didymus, der sie liebt und sich zum Christentum bekehren lässt, befreit sie. Doch am Ende werden beide zum Tod verurteilt. Tatsächlich war der Uraufführung am Covent Garden Theatre 1750 wenig Glück beschert. Nicht mehr als insgesamt vier Mal wurde „Theodora“ zu Händels Lebezeiten gespielt.
Kronenzeitung: Wie erklärt sich dieser Misserfolg? Was das Werk dem damaligen Publikum etwa zu wenig spektakulär?
Bejun Mehta: Das Werk zeigt die großen Veränderungen im Schaffen Händels. Er befand sich im Prozess des Wandels von der Oper, nach italienischem Geschmack, hinein in die Welt des Oratoriums. Die Menschen waren damals bei der Uraufführung einfach noch nicht bereit für dieses Stück mit seinem sehr dunklen Innenleben, wobei ich dabei nicht depressiv meine, sondern intensiv und kontemplativ.
In dem erwähnten Zitat sagte Händel aber auch, dass Theodora seinem Empfinden nach zu seinen allerbesten Werken zählt. Und es blieb für den Rest seines Lebens sein Lieblingsstück, in dem er es geschafft hat, die Dramatik der Oper mit der Kontemplation des Oratoriums zu vereinen und als dritte Ebene eine universelle, nicht religiöse, Spiritualität einzuziehen.
Was hat uns die Märtyrergeschichte heut zu sagen?
Wir wollen mit unserer Produktion zeigen und fragen, wo ist die Spiritualität in den Menschen von heute? Besitzen wir eine solche überhaupt noch? Durch die sozialen Medien und das „Siloing“ (die gezielte thematische Bündelung von Online-Inhalten, Anmerkung) sind die Menschen in ihren eigenen Informationsbubbles isoliert. Sie schaffen es nicht mehr, mit Andersdenkenden zu kommunizieren. Die Menschen können nicht mehr miteinander sprechen. Immer mehr verlieren sie ihre Verbindung zwischen Geist und Seele, der Kreislauf ist gestört. Wir teilen nicht mehr dieselbe Wahrheit.
Welche Rolle spielt dabei der Chor?
Technisch gesehen stellen die Choristen die Christen und die Heiden dar, aber in Wahrheit, werden sie zu einer Menschen-Masse und somit zu den Repräsentanten von jedem, der zusieht. In uns allen steckt das Gute wie das Böse, Liebe, Großzügigkeit, Gewalt, Egoismus, Eigensinnigkeit.
Vor sich selbst erschrecken
Man glaubt immer, dass man großartig, schön und liebenswert, großzügig und herzlich ist. Doch manchmal muss man erkennen: oh Gott, auch ich kann gemein, kalt und hart sein. Das hat das Originalpublikum früher wohl zurückschrecken lassen. Aber heute macht es das Stück zu einem der großartigsten Werke überhaupt, einer wichtigen Auseinandersetzung, die wir mit uns selbst haben sollten.
Warum braucht „Theodora“ die Bühne? Steckt überhaupt genug Drama gerade in diesem Oratorium?
Absolut. Wir hängen zu sehr am Begriff „Oratorium“. Ich war immer überzeugt, dass mehr als genug Drama im Theodora steckt, um es auf der Bühne zu inszenieren: Es kommen zwei Liebesgeschichten vor, ein Gefängnisausbruch, es gibt einen bösen Schurken. Aus dramaturgischer Sicht ist das spannender als etwa Händels Oper „Rodelinda“, die eine ganz simple Geschichte besitzt.
Ist es ihre erste szenische Produktion als Dirigent?
Ja, ich habe bisher nur Konzerte gemacht.
Ist es daher eine besondere Herausforderung für Sie?
Ich bin ein Bühnentier, Theatermensch, ein Sänger, habe in Orchestern gespielt, weiß, wie Opernhäuser, wie Sänger funktionieren. Da liegt Oper zu dirigieren in der Luft. Aber so eine Opernproduktion kostet natürlich eine Menge Geld, und kaum jemand will das Risiko mit einem Dirigenten eingehen, den zwar alle kennen, der das aber noch nie gemacht hat.
Wie ein nach Hause Kommen
Deshalb war es bisher leichter, Engagements für Konzerte mit Orchestern zu bekommen. Aber technisch ist das viel schwieriger - ich habe den Vergleich, da ich auch jahrelang als Cellist selbst Symphonien gespielt habe -, wenn man mit einem modernen Orchester zuerst ein paar Arien singt und dann Symphonien etwa von Mozart und Haydn dirigiert. Dagegen fühlt sich Theodora wie ein nach Hause kommen an. Da wollte ich immer hin, und ich bin glücklich damit.
Das Cellospiel war also die Keimzelle fürs Dirigieren?
Ich habe das Cellospiel sehr ernsthaft im College studiert und sogar ein kleines Orchester gegründet. Das ist das klassische Modell, wie aus dem Uni-Ensemble, so wie etwa bei Raphaël Pichon, etwas Großes werden kann. Ich habe das auch so begonnen, und hätte wohl damit weitergemacht, wenn ich nicht diese Karriere als Knabensopran gehabt hätte. Ich musste erst schauen, ob ich auch noch als Erwachsener eine Stimme besitze.
Eine logische Entscheidung
Denn wenn man diese hat, muss man sie sehr früh ausbilden und die Karriere rechtzeitig starten. Das geht nicht mehr mit fünfzig. Es war daher eine logische Entscheidung, sich zuerst der Gesangskarriere zu widmen und später zum Dirigieren zurückzukommen. Das war kein fester Plan, aber es lag immer in der Luft
Neben dem Dirigieren und Singen zählt auch das Unterrichten zu ihrer Leidenschaft. Seit kurzem leiten sie eine Gesangsklasse an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien, der „mdw“. Ihre erste Professur?
Ja! Noch dazu fühle ich mich wirklich gehrt, dass ich der erste Countertenor mit einer Gesangsprofessur an der mdw bin! Wobei ich seit einigen Jahren auch eine Privatklasse in Berlin habe. Ich sehe heute so viele Stimmen auf der Opernbühne, die noch nicht fertig sind, die aber trotzdem gepusht werden. Das Zeitfenster, um in die Branche zu kommen, wird immer kleiner und kürzer. Viele sind noch nicht fertig, werden auch nicht fertig und werden sehr schnell „weggeschmissen“. Ich finde dieses Hamsterrad ganz schlimm. Daher wollte ich auch unterrichten, um den Studierenden die technische Basis zu geben, das System wie es jetzt ist zu überstehen.
Der Atem muss die Seele berühren
Was ich bei den Studierenden oft bemerke, ist, dass sie sich mit ihrem Atem nicht richtig verbinden können, weil sie oft zu nervös sind, um sich physisch zu öffnen. Ein freies Atmen ist einer der wichtigsten Aspekte der Gesangstechnik. Das kommt auch von diesem konstanten „Siloing“ und den sozialen Medien, diesem ständigen Zwang sich mit anderen zu vergleichen und zu messen, und dabei zu vergessen, wer man selbst ist. Meinen Studenten möchte ich das Vertrauen zurückgeben, sich zu öffnen, den Atem in sich reinzulassen. Manche beginnen dabei sogar zu weinen, weil sie zum ersten Mal spüren, wie tief das geht, wie der Atem die Seele berührt. Das ist die Kunst des Singens.
Und sie unterrichten Countertenöre?
Nein, das ist ja der Punkt. Meine Stimme hat gehalten, weil ich eben keine sogenannte Countertenor-Technik habe. Es geht um eine Belcanto-Technik. Die gebe ich weiter. Es ist auch wichtig zu sehen, dass ein Countertenor einen Wagnersopran oder -Tenor unterrichtet, und dass es funktioniert. Es zeigt, dass auch wir, als „richtige“ Countertenöre, mit einer technischen Basis singen. Nicht anders als andere Sänger, aber eben mit der Kopfstimme so wie auch Soprane und Mezzos.
Sie sind jetzt also viel in Wien?
Ich ziehe nach Wien und freue mich riesig darüber! Ich suche gerade eine Wohnung. Ich stamme aus der Mehta-Familie mit ihrer starken Verbindung zu Wien (Bejun ist etwa der Neffe von Dirigent Zubin Mehta, Anmerkung) und habe hier so viel gesungen. Außerdem haben sich meine Eltern sich in den 1950er Jahren an der mdw als Musikstudierende kennengelernt. Es ist es also keine Übertreibung, wenn ich sage: Ohne die mdw wäre ich wahrscheinlich nicht auf der Welt. Es ist wie eine Heimkehr. Alles kommt zusammen.
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