Die Zeit, in der Klimakrise doch noch das Ruder herumzureißen, schwindet zunehmend. Und das deutlich schneller als vermutet. Laut aktuellen Berechnungen lassen die aktuellen Temperaturrekorde das verbleibende CO2-Budget für das 1,5 Grad-Ziel sogar um die Hälfte schrumpfen.
Wie schnell sich das Fenster zur Begrenzung der globalen Temperaturzunahme von 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau schließen kann, haben die Temperaturrekorde der vergangenen Jahre eindrücklich gezeigt. Ein Forscherteam mit Beteiligung aus Österreich hat nun die Schätzungen zum verbleibenden CO2-Budget überarbeitet.
Ihr im Fachblatt „Nature Climate Change“ veröffentlichtes Fazit: Geht es noch sechs Jahre lang weiter wie bisher, ist das Ziel endgültig Geschichte.
Entwicklungen überraschen - im negativen Sinne
Die jüngsten Entwicklungen der vergangenen Jahre haben auch viele Experten im negativen Sinne überrascht: So schlagen die Auswirkungen der beispiellosen Erhöhung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre deutlich rascher durch als vielfach erwartet.
Die Hitzeanomalien des heurigen Jahres mit stark über dem langjährigen Schnitt liegenden Meerestemperaturen, dem vergleichsweise sehr warmen Sommer und heißen Herbst in vielen Weltregionen und insgesamt tageweise höchsten bisher gemessenen weltweiten Durchschnittstemperaturen illustrieren das.
2023 wohl wärmstes Jahr der Aufzeichnungen
So rechnet die US-Klimabehörde NOAA mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 99 Prozent, dass 2023 das weltweit wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen wird. Laut dem EU-Klimawandeldienst Copernicus lagen die Durchschnittstemperaturen heuer bisher um 1,4 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau.
Wie groß also der verbleibende Spielraum ist, bis es zu einer mehr oder weniger permanenten Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze kommt, innerhalb derer sich laut Expertenmeinung die negativen Auswirkungen der Klimakrise zumindest einigermaßen in Grenzen halten lassen, fragten nun Forscher um die Studien-Hauptautoren Robin Lamboll vom Imperial College in London und Joeri Rogelj vom Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien.
Das muss jetzt passieren:
In ihrer Analyse kommen die Wissenschaftler nun zum Schluss, dass noch eine 50-Prozent-Wahrscheinlichkeit auf eine Begrenzung des Zuwachses an der 1,5-Grad-Schwelle besteht, wenn der Mensch ausgehend vom Jänner 2023 nur noch knapp 250 Gigatonnen CO2 zusätzlich in die Atmosphäre bläst. Damit würde der CO2-Budget-Spielraum gegenüber den letzten Schätzungen, mit Anfang 2020 beginnenden Schätzung des Weltklimarates IPCC auf die Hälfte schrumpfen.
Das liege vor allem daran, dass die Emissionen seit einem kurzen Rückgang infolge der Covid-19-Pandemie wieder anwachsen. Auch die jüngsten meteorologischen Beobachtungen würden die Budget-Schätzungen negativ beeinflussen, heißt es in einem Perspektivenartikel zu der Arbeit von Benjamin Sanderson vom Centre for International Climate and Environmental Research in Oslo.
Spiel gegen die Zeit
Anders ausgedrückt gehen sich innerhalb dieses 250-Gigatonnen-Spielraumes nur noch rund sechs Jahre aus, in denen so wie heuer CO2 emittiert werden kann, heißt es in der Arbeit. Als Referenzwert dienten den Wissenschaftlern die rund 40 Gigatonnen CO2-Emissionen, die der Mensch im vergangenen Jahr weltweit verursacht hat. Für die 50-prozentige Chance, noch unter der Zwei-Grad-Plus-Grenze zu bleiben, errechnete das Team, dem auch die IIASA-Forscher Zebedee Nicholls, Christopher Smith, Jarmo Kikstra und Edward Byers angehören, ein Restbudget von in etwa 1200 Gigatonnen CO2.
Die Wissenschaftler betonen in ihrer Arbeit jedoch, dass diese Angaben alles andere als in Stein gemeißelt sind: Ein Unsicherheitsfaktor ist etwa der Einfluss von Emissionen anderer Treibhausgase, deren Konzentrationen ebenfalls in den vergangenen Jahrzehnten im Steigen begriffen sind.
„Das Budget ist extrem knapp“
Ebenso nicht klar sei, wie die Erderhitzung weiterläuft, wenn die Netto-Emissionen einmal bei Null liegen - wenn also nicht mehr Treibhausgase in die Atmosphäre gelangen, als durch die Natur oder technische Anstrengungen wieder daraus entfernt werden. Sanderson gibt hier zu bedenken, dass angesichts der neuen Zahlen von Lamboll und Kollegen ein Erreichen von Netto-Null-Emissionen um die Mitte des Jahrhunderts, wie seitens der Politik vielfach in Aussicht gestellt, nicht ausreichen würde, um ein Überschießen der 1,5-Grad-Grenze zu vermeiden.
„Die aktuelle Studie zeigt vor allem eines: Für das 1,5-Grad-Ziel wird es sehr, sehr knapp. Es ist fast irrelevant, ob das Budget bei gleichbleibenden Emissionen in sechs Jahren - wie in dieser Studie - oder in zehn Jahren - wie vorher gedacht - aufgebraucht ist. Es ist in jedem Fall extrem eng. Und das ist keine neue Erkenntnis“, erklärte der nicht an der Studie beteiligte Leiter des New Climate Institute in Köln, Niklas Höhne, gegenüber dem deutschen Science Media Center (SMC). Das bedeute aber keinesfalls, aufzugeben. „Ganz im Gegenteil. Es zeigt, dass jede eingesparte Tonne Kohlendioxid umso wichtiger ist, weil das Budget so extrem knapp ist.“
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