Der russischen Führung werden in der Ukraine zahlreiche Kriegsverbrechen vorgeworfen. Dazu gehört die Verschleppung Tausender ukrainischer Kinder. Die Spur eines kleinen Mädchens führt nun zu einem Verbündeten von Russlands Machthaber Wladimir Putin.
Sergej Mironow, Chef der Alibi-Oppositionspartei „Gerechtes Russland“, steht laut Recherchen der BBC auf den Adoptionspapieren eines zwei Jahre alten Mädchens, das 2022 aus der ukrainischen Stadt Cherson entführt wurde. Ihr Schicksal konnte der britische Sender mithilfe der ukrainischen Ermittlerin Viktoria Nowikowa, die für den Strafgerichtshof Beweise für die Kindesentführungen zusammenträgt, nachzeichnen.
Mit zehn Monaten entführt
Margarita war eines von 48 Kindern, die vermisst wurden, nachdem russische Truppen vergangenes Jahr Cherson eroberten. Sie wurde im August 2022 entführt, als sie zehn Monate alt war.
Das Mädchen war damals die jüngste Bewohnerin eines Kinderheims im von Russland besetzten Cherson. Die Mutter hatte das Sorgerecht nach der Geburt abgegeben, der Vater war unbekannt, berichtet die BBC. Wegen einer Bronchitis wurde das Kind damals ins Kinderspital gebracht. Dort taucht eine Frau auf, die sich selbst als Chefin der Abteilung für Kinderangelegenheiten in Moskau vorstellte.
„Es war wie in einem Film“
Kurz darauf bekam das Krankenhaus wiederholte Anrufe des neuen russischen Chefs des Kinderheims. Er verlangte, dass Margarita sofort dorthin zurückgebracht wird. Einen Tag nach ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus wurde das Personal aufgeforderte, das Kind für eine Reise vorzubereiten. „Wir hatten alle Angst“, wird eine Pflegerin des Kinderheims zitiert. Sie schilderte, wie russische Männer, einige in militärischen Tarnfleck-Hosen, einer mit Sonnenbrille und Aktenkoffer. „Es war wie in einem Film“, so die Pflegerin zur BBC.
Wochen später, im Oktober 2022, kam der russische Duma-Abgeordnete Igor Kastjukewitsch in das Heim in Cherson, um die Deportation der übrigen Kinder zu organisieren. Kastjukewtisch postete selbst ein Video von der Aktion auf seinem Telegram-Account und stellte sie als humanitäre Mission dar. Seiner Aussage zufolge wurden die Heimkinder auf die seit 2014 von Russland annektierte Krim „in Sicherheit“ gebracht.
Monatelang versuchte die BBC, Margarita und die übrigen 47 Kinder ausfindig zu machen. Ermittlerin Nowikowa entdeckte ein Dokument, wonach das Mädchen für medizinische Tests in ein Moskauer Spital überstellt wurde. Auf dem Papier wurde auch eine Frau namens Inna Warlamowa genannt. Von einer Ärztin wurde sie als die mysteriöse Frau identifiziert, die im Spital in Cherson auftauchte, als das kleine ukrainische Mädchen Margarita dort behandelt worden war.
Mit dem Mitternachtszug nach Moskau
Weitere Recherchen ergaben, dass Warlamowa an dem Tag wieder in die Ukraine kam, als Margarita aus dem Kinderheim weggebracht wurde. Die Russin bestieg wenig später den Mitternachtszug zurück nach Moskau - und alles deutet darauf hin, dass sie Margarita mitnahm.
Verheiratet ist Warlamowa mit Sergej Mironow, Chef von „Gerechtes Russland“ - einer Partei, die gegründet wurde um Oppositionsstimmen zu absorbieren aber eigentlich kremltreu ist - und ein Unterstützer von Putin. Warlamowa und Mironow scheinen laut BBC als Eltern auf einer Geburtsurkunde einer „Marina“ auf, die im Dezember 2022 14 Monate alt war. Sie hat am gleichen Tag Geburtstag wie Margarita. Adoptionspapiere zeigen die Namensänderung und weisen den Podolsk nahe Moskau - wo Warlamowa Immobilienbesitz hat - als Geburtsort des Mädchens aus.
Ukraine: 20.000 verschleppte Kinder
Das Schicksal von Margarita ist eines von Tausenden: Nach Angaben der ukrainischen Regierung sind inzwischen fast 20.000 Kinder identifiziert, die von den russischen Invasoren seit Beginn des Angriffskriegs im Februar 2022 entführt wurden. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat wegen dieser mutmaßlichen Verschleppungen gegen Putin und dessen Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa einen Haftbefehl erlassen. Nach der Genfer Konvention ist ein Kriegsverbrechen, in Kriegszeiten grundlos Zivilisten zu deportieren. Ebenso verboten ist es, den Familienstatus eines Kindes zu ändern.
Nach russischer Darstellung werden die Kinder nicht entführt, sondern vor dem Krieg in der Ukraine in Sicherheit gebracht. Laut Lwowa-Belowa gibt es keine Adoptionen ukrainischer Kinder. Man nehme sie lediglich in Pflege oder Vormundschaft. Auf Anfrage der BBC erklärte die russische Regierung aber, dass es „inkorrekt“ sei, dass es keine Adoptionen gebe. Denn solche autorisiere man in den Gebieten, die Russland in der Ukraine besetzt hält und nun zu eigenem Staatsgebiet erklärt hat.
Die russischen Behörden versuchen die Identitäten zu löschen, in dem sie neue Geburtsurkunden und Pässe ausstellen.
Die ukrainische Ermittlerin Viktoria Nowikowa
Die ukrainische Ermittlerin Viktoria Nowikowa hat sich zum Ziel gesetzt, alle aus dem Kinderheim in Cherson verschwundenen Kinder ausfindig zu machen. Sie sorgt sich aber, dass ihre Spur bald kalt wird. „Die russischen Behörden versuchen die Identitäten zu löschen, in dem sie neue Geburtsurkunden und Pässe ausstellen“, sagt sie.
„Wir müssen sie zurückbringen“
Moskau hat erklärt, Kinder ihren Familien zurückzugeben, wenn es eine rechtliche Grundlage dafür gibt und sie abgeholt werden. Viele Eltern wissen aber gar nicht, wo ihre Kinder sind. Im Fall von Margarita wurde Nowikowa von der ukrainischen Regierung zur gesetzlichen Vertretung ernannt und will in Russland darum ansuchen, dass das Kind zurückgegeben wird. „Sie wollten sie auslöschen. Wir müssen sie zurückbringen“, sagt sie.
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