Stadtspaziergänge

Wer frei von Schuld ist, werfe den ersten Stein

Wien
26.12.2023 20:48

„Krone“-Reporter Robert Fröwein flaniert durch die Stadt und spricht mit den Menschen in Wien über ihre Erlebnisse, ihre Gedanken, ihre Sorgen, ihre Ängste. Alltägliche Geschichten direkt aus dem Herzen Wiens.

Die Palästinenser beschuldigen Israelis, diese wiederum die Palästinenser. Musiker Gil Ofarim beschuldigte in einem Leipziger Hotel einen Mitarbeiter des Antisemitismus und gab später vor Gericht zu, gelogen zu haben. Wenn die auf dem Papier bessere Fußballmannschaft überraschend gegen einen Nachzügler verliert, dann läge das meist nicht an der eigenen Leistung. Verantwortlich dafür seien die lange Verletztenliste, irreguläre Platzverhältnisse oder dass der Vollmond gerade ungünstig im Zeichen der Zwillinge stehe. Wenn man von eigenem Fehlverhalten ablenken will oder man sich in die Ecke gedrängt fühlt, weist man gerne jede Verantwortung von sich und putzt sich woanders ab. Schuldzuweisungen beginnen schon im Kindesalter („er hat zuerst gehauen“) und enden erst am Totenbett.

In Österreich ist man per se gerne uneinsichtig und schiebt den schwarzen Peter nur allzu gerne anderen zu. Wer denn eigentlich wirklich Verursacher von Problemen und Unzulänglichkeiten ist, ist am Ende meist egal, denn der Schaden ist längst angerichtet. Anstatt in die Hände zu spucken, sich zusammenzusetzen und sich des jeweiligen Problems anzunehmen, wird gerne mit dem Finger auf andere gezeigt und von der Lösung abgelenkt. Aktuell kann man das an vielen Baustellen beobachten. Diverse Wirtschaftsvereinigungen kämpfen etwa mit Gewerkschaften um neue Kollektivverträge - teils mit harten Bandagen, teils sogar mit Giftpfeilen. Schuld sei der jeweils andere, warum sich am Status quo nichts ändere und man nach stunden- und tagelangen Verhandlungen noch nicht einmal ein Eitzerl Kompromiss zustande bringt.

Meinen Lieblingstrafikanten im Westen Wiens erzürnt vor allem die Diskussion um den staatlichen Defizitkurs, bei dem sich die einzelnen Parteien im Parlament derzeit die Schmutzkübel um die Ohren hauen. „Während der Pandemie haben die Politiker das Geld abgeschafft und damit nur so um sich geworfen, jetzt wissen sie nicht mehr, wie sie die steigenden Schulden überhaupt einbremsen können.“ Den Zorn über die allgemeine Performance am politischen Parkett teilt er sich mit vielen Bürgern. In einer Zeit der treibenden Inflation, in der viele Menschen genau überlegen müssen, wo sie einkaufen und wie sie Dinge rationieren und bestmöglich verwerten können, wirken die Nadelstreif-Diskussionen um den steigenden Schuldenberg Österreichs wie blanker Hohn.

Noch viel schlimmer als die allgemein bedrückende Lage des Staates ist aber die Art, wie darüber diskutiert wird. Erwachsene, gebildete Menschen (und zumeist Männer) ergießen sich in Sticheleien und niveaulosen Anprangerungen, um sich von der Staublast der eigenen Verfehlungen zu befreien, die aber durchaus berechtigt belastend auf ihren Schultern liegt. Schuldzuweisungen mögen manchmal gerechtfertigt sein, zu einer Verbesserung einer Situation führen sie aber nie. Das ist auch meinem Trafikanten bewusst. „Ob das jetzt die Schwarzen, die Blauen, die Roten oder die Grünen sind, ist mir völlig wuascht. Sie sollen sich nicht dauernd an uns abputzen, sondern ordentlich arbeiten. Dafür zahle ich auch genug Steuern.“ Dafür wäre aber auch nachhaltiges Arbeiten über den nächsten Wahlkampf hinaus denkend wichtig - doch das ist wieder ein anderes, leidliches Thema …

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