„Krone“-Interview

Ilgen-Nur: „Die Welt zu sehen verändert dich“

Musik
13.12.2023 09:00

Mit ihrer EP „No Emotions“ kanalisierte Ilgen-Nur Teenage-Angst in Musik, das Debütalbum „Power Nap“ machte sie 2019 ungewollt zur deutschen Slacker-Queen. Während der Pandemie hat sie ihre Liebe zu Los Angeles entdeckt. Aus einem Urlaub wurde ein Arbeitsaufenthalt, daraus das großartige neue Album „It‘s All Happening“, auf dem sich die 27-Jährige gereift und musikalisch vielseitig zeigt. Am Rande ihres Gigs im Wiener Fluc haben wir das Indie-Toptalent zum Gespräch gebeten.

(Bild: kmm)

„Krone“: Ilgen, im Wiener Fluc hast du vor wenigen Tagen deine kurze Europa-Tour zu deinem aktuellen Album „It’s All Happening“ beendet. Wie ist sie verlaufen?
Ilgen-Nur:
 Ich hatte das Gefühl, dass es während unserer Tour von Herbst zu Winter wurde. Anfangs hat es geschüttet, in Wien habe ich dann sogar Schnee gesehen. Es machte großen Spaß, die Songs live zu spielen und die Leute zu sehen, die die Musik hören und deshalb kommen. Es ist eine andere Verbindung, als wenn man vor Festivalgästen spielt.

Für einen Künstler ist ein neues Album immer schon alt, weil er lange daran arbeitete. In deinem Fall gibt es auch eine große geografische Entfernung. „It’s All Happening“ hast du in Los Angeles aufgenommen.
Der Ort, an dem das Album entstand und die Zeit, in der wir es aufgenommen haben, fühlt sich tatsächlich sehr fern an. Wir sind jetzt hier im kalten Wien und nicht im sonnigen Kalifornien. (lacht) Es ist aber sehr schön, die Songs von dort hier in Europa zu spielen. Es ist so, wie wenn man alte Fotos ansieht. Nostalgisch und auch aktuell. Schwer zu beschreiben.

Wie viel von den Albumaufnahmen in den USA waren geplant und was davon passierte dann eher zufällig?
Ich hätte bei einem Festival spielen sollen, das wegen Corona aber nicht stattfand, also blieb ich dort. Ich wollte das Album eigentlich in Berlin aufnehmen, aber es passierte ganz anders. Beim ersten Mal war ich für den Urlaub dort. Freunde besuchen und die Stadt kennenlernen. Dann war ich drei Monate am Stück dort, habe Songs geschrieben und musste sie auch aufnehmen, wofür ich nochmal nach L.A. fuhr. So hat sich dann alles zusammengebaut. Eine Platte dort aufzunehmen, hat aber schon auch viel zeitlichen und finanziellen Aufwand benötigt.

Die deutsche Musikpresse hat dich nach deinem Debütalbum „Power Nap“ von 2019 als „Slacker-Königin“ oder „Indie-Queen“ bezeichnet. Du warst nicht immer glücklich mit diesen Zuschreibungen. War das ein Mitgrund, für „It’s All Happening“ das Land zu verlassen?
Mich zu schubladisieren oder wo hineinzustecken, um mich verorten zu können - so funktioniert Journalismus und das ist okay so. Darüber denke ich überhaupt nicht nach, wenn ich meine Songs schreibe. Ich lese mir nicht meine Interviews und Reviews durch, um anders zu klingen. Nach dem ersten Album war erstmal die Pandemie und ich habe lange nicht geschrieben. Ich musste einige persönliche Dinge verarbeiten und habe mir überlegt, welche ich Songs ich schreiben und wohin im Leben ich möchte. „It’s All Happening“ ist die Platte, die ich schreiben wollte. Bei meiner ersten EP wurde ich gerade 20 und alles passierte ungeplant und hat sich sehr positiv entwickelt. Dieses Mal habe ich viel mehr bedacht und ich habe über die Jahre ein besseres Verständnis für Musik gekriegt. Das hat den Prozess der neuen Platte stark geprägt.

Den Sprung ins kalte Wasser magst du überhaupt gerne. Etwa, als du einst vom beschaulichen Baden-Württemberg nach Hamburg umgezogen bist oder schnell alles auf die Musikkarte gesetzt hast. Da waren schon einige mutige Schritte dabei.
Ich bin schon ein bisschen rastlos und mich zieht es immer zu mehr und woanders hin. Gleichzeitig will ich aber auch zur Ruhe kommen. Als Musikerin gibt es keine Sicherheit und keine Basis. Das ist toll, aber manchmal überfordert es mich ein bisschen. Ich würde gleichzeitig aber auch nichts anderes machen wollen. Ich will Lieder schreiben, Konzerte spielen, andere Musiker kennenlernen und die Welt sehen. Da kann ich auf Sicherheit besser verzichten.

Vertraust du dir und deinen Entscheidungen oder plagen dich immer wieder Selbstzweifel?
Mal so und mal so. Ich achte darauf, was mein Team sagt, aber im Endeffekt weiß ich gut, was ich will und bin sehr zielstrebig. Über das letzte Jahr habe ich mir eine komplett neue Liveband zusammengestellt und meine Booking-Agentur gewechselt. Das waren große Veränderungen, weil ich mit denselben Leuten zusammenarbeite und das sehr intensiv. Am Ende muss ich die Entscheidungen aber selbst so treffen, wie ich sie für richtig halte.

Ist Los Angeles mehr als ein reiner Sehnsuchtsort? Willst und wirst du immer wieder dorthin zurückkehren?
Auf jeden Fall. Wenn ich es mir leisten könnte, würde ich sofort hinziehen, aber so einfach ist das auch nicht. Es gibt mir die Motivation, dass es diesen Ort gibt, wo ich gerne sein würde. Als Teenager wollte ich immer in Berlin wohnen. Jetzt, wo ich in Berlin bin, will ich vielleicht nach L.A. oder nach Japan. Ich finde es immer schön, so eine Vision oder Träume zu haben. Darum dreht sich auch der Song „Lookout Mountain“. Als ich das erste Mal in Laurel Canyon war, habe ich bemerkt, dass die Leute ganz anders wohnen und leben als ich es von zu Hause gewohnt war. Es muss nicht immer alles quälend sein und man muss nicht alles hassen.

Es gibt in Europa auch wenige Ecken, die so verträumt und sehnsuchtsbeladen wirken wie Laurel Canyon. Oder sich vielleicht auch dem kapitalistischen Stress entziehen wollen.
Gut, der Turbokapitalismus ist in Los Angeles extrem ausgeprägt, das ist dann natürlich wieder die andere Seite der Münze. (lacht) Berlin ist mein Zuhause, aber es ist gut, andere Orte zu haben, nach dehnen man sich sehnt. Viele Leute trauen sich nicht raus oder sind durch Familie und Job an die Heimat gebunden. Mehr von der Welt zu sehen, macht aber was mit dir. Mich hat das sehr geprägt.

Färbt die jeweilige Umgebung die Art, wie du Lieder schreibst?
Auf jeden Fall. Als ich die drei Monate in Los Angeles war, bin ich so viel Auto gefahren und habe so viel Musik gehört. Es gab so viele Eindrücke, die es auf die Platte geschafft haben. Es sind nicht nur L.A.-Songs auf dem Album, das teilt sich gut auf. Aber die Leute, die Orte und alles, was um mich herum passierte, hat viel beeinflusst. Die Texte des Albums würden auch so in meinem Tagebuch stehen, wenn ich keine Musik machen würde.

Beruft sich der Song „Der Stern“ eigentlich auf den Mercedes, den du dort gekauft hast und mit dem du dauernd durch die Gegend gefahren bist?
Nein, aber ich finde es lustig, dass du der erste bist, der das fragt. „Der Stern“ ist ein Song, der eher wie eine Demo entstand. Ich habe ihn in Berlin aufgezeichnet und der Text dazu ist sehr kurz. Ich hatte keinen Arbeitstitel und habe das Lied dann nach einer Tarotkarte benannt, die ich immer wieder gezogen habe. Passend, wie ich finde.

Wir haben es schon angeschnitten - es gibt das Los Angeles der Medien- und Kulturindustrie und des Kapitalismus. Dann gibt es das New-Age-L.A., das nach Joni Mitchell, Neil Young und Hippie-Kult riecht. Warst du geistig irgendwo in der Mitte anwesend?
Es kommt voll darauf an, wo du wohnst. Oben im Laurel Canyon wohnen nur die Reichsten und du siehst wenig Obdachlosigkeit. Ich war aber auch viel in East L.A. und in Topanga, wo der Hippie-Kult herrscht. Ich fuhr viel herum und habe die Stadt an allen Ecken und Enden kennengelernt. Es gibt dort sehr starke Kontraste zwischen Obdachlosigkeit und unglaublichem Reichtum oder Hitzewellen, die zu Waldbränden führten und angenehmeren Temperaturen unten an der Küste. Nachts ist die Stadt düster und wenn es regnet, ist es dort auch furchtbar. Alles hat 24 Stunden offen und wenn man Geld hat, ist es wie ein Spielplatz für Erwachsene.

Hattest du vorher ein romantisches Bild von der Stadt, das dann von der ehrlicheren und harschen Realität abgelöst wurde?
Je länger ich da war, umso realer wurde alles. Im Allgemeinen konnte ich die Stadt trotzdem romantisieren. Ich habe immer darauf geachtet, dass Los Angeles für mich besonders bleibt und deshalb ist es auch gut, dass ich immer nur für eine gewisse Zeit dort bin.

Mit einer Diskussion um das Auto kommt man in Los Angeles nicht weit, nachdem der öffentliche Verkehr dort so gut wie inexistent ist …
Ich sage immer allen, dass sie nur dann nach Los Angeles fahren sollen, wenn sie Geld auf die Seite gelegt haben und einen Führerschein besitzen. Ansonsten macht das keinen Spaß.

„It’s All Happening“ fiel am Ende doch persönlicher und intimer aus, als du das eigentlich vorgehabt hast.
Die Texte sind dieses Mal ein bisschen neutraler, aber sie sind für mich sehr persönlich. Es gibt Wörter und Sätze, die nur ich verstehe und einige Referenzen gehen über das Album hinaus. Es geht viel um mein Wachstum und meine innere Gefühlswelt. Dass ich es ein bisschen aus meinem Angst- und Hasszustand auf die Welt herausgeschafft habe. Vielleicht habe ich in Los Angeles auch einfach ein bisschen zu viel gekifft. (lacht) Vielleicht ist das jetzt meine Stoner-Platte. Jetzt pushe ich auch noch meinen eigenen „Slacker-Queen“-Stereotyp. (lacht)

Impliziert all das, dass du das nächste Album oder auch die nächsten Songs wieder fernab von Berlin oder Deutschland generell schreiben und aufnehmen willst?
Ich war noch nie in Japan, aber das ist auch ein Ort, an dem ich immer schon mal hinwollte. Dort kenne ich aber niemanden. Aus Los Angeles kannte ich schon so viele Musiker über das Internet und auch durch das Touren. Eine meiner besten Freundinnen wohnt dort, die auch das Albumcover fotografierte und ein Musikvideo gedreht hat. Ich kenne viele Locals, die mir ein Bild von Los Angeles gegeben haben, das ich nie bekommen hätte, wäre ich mit drei deutschen Freunden dort als Urlauber herumgefahren. Ich denke gar nicht so sehr an die nächste Platte und habe seit der letzten nicht viel geschrieben. Eine Platte in Deutschland aufzunehmen, fühlt sich aber schon jetzt falsch an. Ich muss mich an den neuen Standards messen und die sind schon ganz anders, als sie am Debüt waren.

In den USA gäbe es ja viele Musikszenen, in denen du vorstellig werden könntest. Portland, Austin, Nashville, New York, Chicago oder New Orleans etwa …
Nach Portland wollte ich auch schon unbedingt, weil es mich immer interessierte. Vielleicht klappt es nächstes Jahr, aber erst einmal privat. Es gibt in Amerika ein anderes Verständnis für Musik. In Kalifornien speziell für Rock- und Folk-Musik. Dort ist es Standard, aber in Deutschland läuft so etwas nirgends im Radio. Das sind zwei grundverschiedene Welten und das merkt man in allen Belangen. In Amerika habe ich über die Radiosender neue Musik entdeckt - das habe ich hier schon seit Jahren nicht mehr gemacht.

Ich glaube, viele Menschen haben in unseren Breitengraden über das erfolgreiche Computerspiel „Grand Theft Auto“ die rocklastige Radiolandschaft Amerikas entdeckt.
(lacht) Das sagen mir tatsächlich viele. Ich habe das ein paar Mal gespielt, aber nie so richtig wie andere. Ich bin in Los Angeles aber so viel einfach ziellos mit dem Auto herumgefahren, dass das wohl gut das Feeling des Spiels getroffen hat.

Ist nicht das allgemeine Verständnis für Kunst- und Kulturschaffende anders als in Mitteleuropa?
Ja, aber es ist auch ambivalent. Dort gibt es einen starken Überhang an Menschen, die es in der Musik oder im Film unbedingt schaffen wollen. Jeder will nach Hollywood oder in den größten Arenen auftreten. Die Small Talks mit den Leuten dort sind sehr direkt und führen dazu, dass jeder den Hintergedanken des eigenen Weiterkommens in sich trägt - zu jeder Situation. Andererseits gibt es viel mehr Interesse und eine größere Verbundenheit in der Kulturszene. Es gibt viel mehr Locations, wo man Bands sehen und andere Künstler entdecken kann. Viele versuchen es, die wenigstens schaffen es. Ein paar Milliardäre hocken in ihren großen Villen, aber die meisten anderen leben tagtäglich von der Hand in den Mund.

Dir ist auch die Selbstständigkeit in deiner Musik sehr wichtig. Für „It’s All Happening“ hast du mit Power Nap Records kurzerhand dein eigenes Label gegründet.
Ich habe eine sehr spezifische Vision und habe mich gegen Plattenfirmen entschieden, weil ich die Verträge nicht gut fand. Ich habe überhaupt keine Lust darauf in einem Büro zu sitzen und mir von jemandem sagen zu lassen, wann und wie ich was auf meinen Social-Media-Kanälen zu posten habe oder welcher Song eine Single sein könnte und welcher nicht. Natürlich machen die auch nur ihren Job, aber das ist die eklige Seite der Musikindustrie. Es geht nur um Geld und Zahlen und das Verständnis für das Songwriting fällt weg. Der nächste Hype zu sein ist nicht die Art und Weise, wie ich Musik sehe oder wahrgenommen werden möchte. Das Album selbst herauszubringen war ein Risiko, aber am Ende bin ich für alles selbst verantwortlich. So wie es auch sein sollte.

Das Produkt heute selbst zu veröffentlichen ist auch einfacher als früher. Es gibt auch Vorteile, sich den 360-Grad-Verträgen der großen Plattenfirmen zu verwehren.
Die Indie-Labels haben kein Geld und die großen wollen nur mehr ganz junge Leute unter Vertrag nehmen, die TikTok-Hypes haben. Es gibt auch noch gute kanadische und amerikanische Labels, aber die holen dich auch nur, wenn du bei ihnen bereits getourt bist und ein gewisses Standing hast - das ist auch alles andere als leicht. Wie soll ich touren und erfolgreich sein, ohne Team und Arbeitsvisum? Ich wusste, dass ich ein wirklich tolles Album hatte, aber keiner wollte mir den Plattenvertrag geben, den ich gerne gehabt hätte. Mir ging es schon einige Wochen übel damit, aber dann habe ich einfach alles selbst in die Hand genommen. Das ist für mich jetzt auch sehr okay. Es gibt so viele Acts, die mit einem Song viral gehen und dann auf Festivals nicht mal ein volles Set durchspielen können. Sie haben keine Bühnenpräsenz und es geht nur darum, den Hype zu halten. Ich finde das auch für viele tolle Kolleginnen frustrierend, die sich jahrelang abstrampeln und nicht weiterkommen.

Es kommt zunehmend das Gefühl auf, dass auch jüngere Musikfans wieder mehr auf das Echte und Handgemachte zurückgehen. Lieber nachhaltige Musik hören und sich von den Hypes nicht immer ganz so schnell mitreißen lassen.
Jüngere Leute haben auch viel mehr Lust auf Konzerte und Musikentdecken. Ich bin privat selbst viel auf TikTok und viele 16-Jährige entdecken richtig spannende Musik. Sie wollen sie dann auch live sehen und das ist per se eine sehr gute Entwicklung. Das liegt aber sicher auch daran, dass viele in der Pandemie lange nicht ausgehen konnten.

Wie geht es bei dir 2024 weiter?
Ich werde zu Weihnachten in Berlin hocken, weil ich es nicht feiere. Nächstes Jahr spiele ich Festivals, aber ansonsten habe ich nichts Fixes geplant. Ich würde mit dem Album gerne noch einmal durch den deutschsprachigen Raum, aber auch darüber hinaus touren. Und ich hätte irrsinnig große Lust darauf, einen großen Act zu supporten. Europaweit den Abend zu eröffnen, aber das ist natürlich ein hehrer Wunsch. (lacht) Wenn ich die Wahl hätte, würde ich wohl Lana Del Rey wählen, aber ich würde mich auch über andere Bands freuen. Dann will ich natürlich neue Songs schreiben und darauf achten, dass es mir weiterhin gut geht.

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