Mehr als 400 km/h in einem Serienauto? Ja, das geht! Wenn man 3,8 Millionen (in Österreich plus NoVA) für einen Bugatti Chiron Super Sport übrig hat, eine sehr lange Gerade kennt - und den Segen von Chefinstruktor Pierre-Henri Raphanel bekommt.
Er fährt das Auto, von dem andere nur träumen - und das nicht nur hin und wieder. Pierre-Henri Raphanel ist Cheftestfahrer bei Bugatti. Wo selbst die wenigen Kunden mit ihrem Chiron im Schnitt keine 2000 Kilometer pro Jahr abspulen, sitzt er beinahe täglich am Steuer der stärksten, schnellsten und teuersten Sportwagen der Welt. Wohl niemand hat schon so oft den acht Liter großen Sechzehnzylinder angelassen wie der ehemalige Formel-1-Rennfahrer aus Frankreich. Außer vielleicht seinem Kollegen Andy Wallace, mit dem er sich heute den Job teilt. Keiner hat den Boliden mit seinen bis zu 1600 PS häufiger auf mehr als 300, ja zum Teil über 400 km/h beschleunigt. Und kein anderer weiß besser, wie der Tiefflieger aus Lack, Leder und Carbon über die Straße zu führen ist, als der PS-Profi.
Zwar läuft hinter den Kulissen auf Hochtouren bereits die Entwicklung des dritten Bugatti der neuen Zeit und vieles spricht dafür, dass der neue Firmenchef Mate Rimac sich dafür etwas ganz Besonderes ausgedacht hat. Während die Ingenieure durch sind mit dem Chiron und die Monteure in Molsheim ihre Aufträge abarbeiten, nutzt Raphanel auch weiterhin den teuersten Dienstwagen der Welt und geht damit auf Tour, um ihn potentiellen Kunden vorzuführen: „Dieses Auto ist so speziell, dass man es schließlich kaum für ganz normale Probefahrten herausgeben kann“, rechtfertigt Monsieur Pierre seinen Arbeitsplatz.
Über 10.000-mal hat er den Superreichen dieser Welt deshalb schon erklärt, wie das schnell fünf Millionen Euro teure Wunderwerk funktioniert. Er hat steinalte US-Milliardäre zum ersten Mal in ihrem Leben auf über 250 km/h gebracht, hat chinesischen Jungunternehmern mit Sprints von 0 auf 100 in weniger als drei Sekunden die Sprache verschlagen, war mit Moskauer Oligarchen und arabischen Scheichs unterwegs, und sogar ein Dutzend Deutsche haben nach der Probefahrt mit dem Ex-Formel-1-Profi einen Kaufvertrag unterschrieben und die Anzahlung überwiesen.
„Toi, toi, toi - über 10.000 Fahrten in zwei Dutzend Ländern und kein einziger Kratzer“, sagt der Instruktor stolz. „Dabei war es manchmal verdammt knapp“, gibt er zu. Er selbst hat gelernt, den Wagen zu beherrschen. Zumal sich der Bugatti bei genügend Selbstbeherrschung so leicht fahren lässt wie ein VW Polo. Nach einer Viertelstunde lässt er die potenziellen Kunden ans Steuer und stirbt dann bisweilen tausend Tode. Vor allem wenn er dort unterwegs ist, wo der Chiron am meisten verkauft wird: in Kalifornien, in China, in den Emiraten, in Macao oder in Mumbai.
Es war schon mal sehr knapp ...
Auch dort fährt er zwar vor jeder Testfahrt die Strecken ab, aber wenn überforderte Fahrer bei chaotischen Verkehrsverhältnissen mit einem Auto mit den Leistungsdaten annähernd eines Kampfjets unterwegs sind, „dann kann es schon mal kitzlig werden“, räumt Raphanel ein und erinnert sich mit Schaudern an eine Begebenheit in Indien. Dort hat sein Schützling den Millionenrenner so haarscharf an einer Hauswand vorbei gejagt, dass Raphanel ihm sogar ins Lenkrad gegriffen und damit das Schlimmste gerade noch verhindert hat: Die Reifen waren zwar weiß vom Putz des Hauses, aber die Karosserie hatte keinen Kratzer.
Ein paar Glückliche auf einem Haufen
Um das Potential des Hypercars voll auszukosten, hat Bugatti dieses Jahr zum ersten Mal nach dem Ende der Pandemie wieder zwei Dutzend Kunden zu einer High-Speed-Experience eingeladen und sie an Aerodynamik- und Performance-Tests im Kennedy Space Center teilhaben lassen - unter Anleitung von Cheftester Raphanel.
Die Location ist exotisch, aber sie ist mit Bedacht gewählt. Nicht nur, weil die Raketenküste von Florida wie keine andere Gegend der Welt für Geschwindigkeit steht und dafür, wie der Mensch die Grenzen des Vorstellbaren sprengt, und sie damit perfekt zum Bugatti passt. Sondern vor allem weil sie hier für die Landung des Space Shuttles auch eine der längsten Betonpisten der Welt in die Sümpfe betoniert haben. 91 Meter breit und fast einen halben Meter dick, ist sie 4,6 Kilometer lang - die beiden Auslaufzonen von jeweils gut 300 Metern noch nicht mitgerechnet. Das macht sie zu einer der zehn längsten Landebahnen der Welt - und zur idealen Spielwiese für den Höllenritt im Chiron.
Dort sitzt Raphanel nun im Chiron Super Sport und wird zum schnellsten Fahrlehrer der Welt. Denn hier soll er ein paar reichen Rasern zeigen, wie sie Geschwindigkeiten erreichen können, die selbst Formel-1-Fahrern verwehrt sind und den allermeisten Piloten auch. Nicht umsonst haben sie in Molsheim „Mission 400“ auf die maßgeschneiderten Rennanzüge gestickt, in die sich die Teilnehmer dieses exklusiven Events zwängen mussten.
Schrittweise auf Speed
Die erste Runde über die knapp fünf Kilometer lange Bahn gibt er den Chauffeur und erklärt die Strecke. Dann wechselt er nach rechts und lässt zum ersten Mal den Kunden ans Steuer. 150 Meilen pro Stunde oder umgerechnet 240 km/h - was einen in den USA überall sonst direkt in den Knast bringt, fühlt sich hier nach Kriechfahrt an und der Chiron braucht da nicht viel mehr als Standgas.
Auch die 320 km/h danach sind eher eine vertrauensbildende Maßnahme denn eine Herausforderung. Ja, ein Verkehrsflieger reckt bei diesem Tempo schon die Nase in den Himmel, doch der Chiron fährt so unbeirrt, dass man wahrscheinlich sogar die Hände vom Lenkrad nehmen könnte. Je weiter der Tacho klettert, desto mehr beruhigt sich deshalb der Puls und Raphanel schaut zufrieden.
Dass er vor dem nächsten Lauf dann trotzdem aussteigt, weil kein Gehalt der Welt dieses Risiko rechtfertige, mag für ihn zwar wie ein guter Scherz klingen, lässt das eigene Selbstvertrauen allerdings wieder zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Doch für Zweifel ist jetzt eine Zeit mehr. Schließlich gibt es vor der Fahrt noch ein paar Punkte auf der Checkliste abzuarbeiten und der Countdown hat längst begonnen.
490 schaffen die Kunden nicht
Weil sich die Entwickler ihrer Verantwortung sehr wohl bewusst sind, haben sie eine entsprechende Sicherheitsschleife eingebaut. Die beginnt mit einem zweiten, schmucklosen Schlüssel, den man links vom Fahrersitz einstecken und einmal drehen muss, um den Top-Speed-Modus zu aktivieren. Während die Elektronik noch einmal alle Systeme checkt und den Reifendruck abruft, macht sich hinten der riesige Spoiler flach und man spürt, wie sich das Auto nochmal um ein paar Millimeter tiefer auf den Asphalt duckt.
Dann ist der Chiron scharf - und wenn der Fahrer jetzt nicht im Zweifel kurz auf die Bremse tippt oder mehr als ein paar Grad am Lenkrad dreht, sind in der Theorie 440 km/h drin - Raphanels Kollege Andy Wallace hat bei einer Rekordfahrt sogar 490 km/h geschafft und den Super Sport wieder auf Platz eins ins Guinness Buch gebracht.
Bei den ersten zwei Versuchen gehen dem Fahrer noch die Nerven durch und er lupft zu früh den Fuß. Doch geduldig und gutmütig spricht Raphanel jedes Mal aufs Neue auf ihn ein und beim dritten Anlauf passt dann alles perfekt zusammen: Die Sensoren signalisieren Zustimmung, Mission Control reckt den Daumen, der Chiron schießt über den Beton und lässt sich weder von dem dicken weißen Streifen der Landebahn-Markierung irritieren noch vom Seitenwind, der zwischen den wenigen Büschen immer mal wieder aufwacht. 60.000 Liter Luft pro Minute blasen die vier Turbos jetzt in die Zylinder, die Kurbelwelle rotiert mit über 7000 Touren und jede Sekunde verschwinden bald 100 Meter Betonband unter den vier angetriebenen Rädern. So gewaltig der Bugatti anfangs anschiebt, wenn er in 2,4 Sekunden von 0 auf 100 beschleunigt, die analoge Nadel nach 5,8 Sekunden über die 200 und nach zusammen 12,1 Sekunden über die 300 km/h wischt, dauern die offiziell 28,6 Sekunden bis 400 km/h hinten raus eine gefühlte Ewigkeit.
Tacho ist Tabu
„Nicht auf den Tacho schauen“, ruft Raphanel dem Fahrer über Funk zu, „sondern immer auf die weiße Linie rechts von Dir.“ Doch je näher die Ziellinie kommt, desto größer wird die Versuchung, den Blick doch einmal zu senken - und desto beruhigender die Erkenntnis, dass die Digitalanzeige tapfer klettert. 380, 390, 395 und noch immer ein paar Hundert Meter bis zur Flagge. Draufbleiben, draufbleiben, reintreten, fester reintreten und noch einmal tief einatmen, dann sind die 400 km/h tatsächlich geknackt und kurz darauf fliegen links und rechts die Fahnen vorbei, die den Bremspunkt markieren - und mit ihm die gefährlichste Phase der Fahrt.
Denn jetzt bloß nicht in Panik geraten und voll in die Eisen steigen, sonst reißt es an einem wie an den Space Shuttle Piloten, wenn der Orbiter den Bremsfallschirm rauswirft. Nur, dass die für solche Extrembelastungen monatelang trainiert haben. Deshalb langsam aber stetig Druck aufbauen und zusehen, wie irrwitzige Energie in Hitze aufgeht, die von den Pizzateller-großen Carbonscheiben aus den Radhäusern flirrt, während sich hinten der Flügel formatfüllend ins Bild schiebt. Und dabei dann auch mal ganz legal auf den Tacho schielen, der längst schon wieder in den Komfortbereich gefallen ist. 380, 360, 340, 320, 300 km/h - da fühlen sich auch Laien am Lenkrad wieder wohl. Nur gut, dass auf der kleinen Zusatzanzeige in der Mittelkonsole das maximale Tempo jeder Fahrt gespeichert wird und der Fahrer sich die Zahl jetzt noch einmal ganz genau anschauen kann: 400 km/h stehen da und man braucht die gesamten fünf Kilometer Rückweg, bis einem das ins Bewusstsein gesickert ist.
Ja, am Ende dieses Events werden sich ein paar mehr Menschen auf die kurze Liste jener Autofahrer eintragen können, die tatsächlich in diesen Geschwindigkeitsbereich vorgestoßen sind und Raphanel verliert wieder ein bisschen mehr von seiner Einzigartigkeit. Doch das ficht den PS-Profi nicht an und es gibt deshalb keinen Zweifel an der ehrlichen, aufrichtigen Freude, mit der er jeden Fahrer nach dem Ziel begrüßt und abklatscht.
Ohnehin hat sich der schnellste Fahrlehrer der Welt seine kritische Distanz zur Raserei bewahrt und zu seinen reichen Eleven. Sobald er ausgestiegen ist, achtet er auf den nötigen Abstand und macht sich nicht gemein mit den Reichen und Schönen. Natürlich gibt es auch mal Einladungen zu Kunden an die Cote d’Azur, auf ein paar schnelle Runden nach Peking, Moskau oder Miami. Aber da lehnt er dankend ab. „Das schönste Wochenende, das ich mir vorstellen kann, findet nicht auf einer Rennstrecke statt.“ Der Mann, der nach bald 20 Jahren im Dienste der schnellsten Marke der Welt häufiger im Bugatti sitzt als unsereins in einem VW, hat nach all der Raserei viel bodenständigere Sehnsüchte: „Ich freu mich auf einen Samstag daheim mit den Kindern auf dem Sofa vor dem Fernseher.“ (Benjamin Bessinger/SP-X)
Kommentare
Willkommen in unserer Community! Eingehende Beiträge werden geprüft und anschließend veröffentlicht. Bitte achten Sie auf Einhaltung unserer Netiquette und AGB. Für ausführliche Diskussionen steht Ihnen ebenso das krone.at-Forum zur Verfügung. Hier können Sie das Community-Team via unserer Melde- und Abhilfestelle kontaktieren.
User-Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Betreibers/der Redaktion bzw. von Krone Multimedia (KMM) wieder. In diesem Sinne distanziert sich die Redaktion/der Betreiber von den Inhalten in diesem Diskussionsforum. KMM behält sich insbesondere vor, gegen geltendes Recht verstoßende, den guten Sitten oder der Netiquette widersprechende bzw. dem Ansehen von KMM zuwiderlaufende Beiträge zu löschen, diesbezüglichen Schadenersatz gegenüber dem betreffenden User geltend zu machen, die Nutzer-Daten zu Zwecken der Rechtsverfolgung zu verwenden und strafrechtlich relevante Beiträge zur Anzeige zu bringen (siehe auch AGB). Hier können Sie das Community-Team via unserer Melde- und Abhilfestelle kontaktieren.