Zittern vor Wahlen

Düstere Aussichten für die Ukraine im Jahr 2024

Ukraine-Krieg
08.01.2024 09:32

Nach fast zwei Jahren Krieg sieht es für die von Russland überfallene Ukraine äußerst düster aus: Auf dem Schlachtfeld herrscht ein mörderisches Patt, im Westen steigt die Kriegsmüdigkeit. Die Stimmen, die nach Verhandlungen rufen, werden lauter, für tragfähige Lösungen gibt es aber kaum Ideen. Außerdem sind Wahlen am Horizont, die über das Schicksal der ukrainischen Verteidiger entscheiden könnten.

Weder militärisch noch diplomatisch zeichnet sich derzeit eine Wende im festgefahrenen Ukraine-Krieg ab, analysiert der Historiker Mark Kramer, Direktor des Davis Center an der Harvard-Universität in den USA. Er sieht das Jahr 2024 daher pessimistisch: „Militärisch gibt es aktuell ein Patt, das sehr viele Menschenleben fordert. Im Herbst 2022 konnte die Ukraine noch Territorium zurückerobern, jetzt hat sie Probleme, russische Angriffe abzuwehren“, so Kramer gegenüber krone.at. Man erlebe „einen der düstersten Momente in einem Krieg, der seit Beginn schrecklich ist“.

Lösung wie nach dem Koreakrieg?
Während es in der Ukraine noch immer Entschlossenheit gibt, der russischen Aggression entgegenzutreten, scheint sich außerhalb des Landes die politische Stimmung langsam zu drehen. Immer lauter werden die Rufe, die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland fordern. Vielfach wird der Waffenstillstand nach dem Koreakrieg, der 1953 geschlossen wurde und bis heute anhält, als Vorbild für eine Verhandlungslösung gesehen. Damals gab es allerdings viel Druck auf Nord- und Südkorea vonseiten der Sowjetunion und den USA, wie Historiker Vladislav Zubok, der an der London School of Economics and Political Science lehrt, anmerkt. Das sei der Unterschied zu heute: „Es gibt keine externen Großmächte, die beide Kriegsparteien an den Verhandlungstisch zwingen können.“

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Eine Schlichtung wäre ein Trugbild.

(Bild: zVg)

Mark Kramer, Direktor des Cold War Studies Project am Davis Center in Harvard

Harvard-Professor Kramer sieht vor allem die Haltung des Kremls als Hindernis für ernsthafte Verhandlungen: „Die russische Regierung hat seit 20 Jahren gezeigt, dass sie das Völkerrecht nicht achtet und all seine Abkommen bricht - ob mit Moldau, Georgien oder der Ukraine. Also wenn man ein Abkommen macht, und Russland sagt, es soll mit dem Gebiet zufrieden sein, das es besetzt hat, wäre das ein Auftakt für einen neuen Krieg. Eine solche Schlichtung wäre ein Trugbild“, betont der Historiker. Denn ein Verhandlungsergebnis, wodurch die Ukraine 20 Prozent ihres Staatsgebietes - also die zum Großteil besetzten Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson - verlieren würde, könne kein ukrainischer Entscheider akzeptieren.

„Die Krim ist ein anderes Thema, aber kein Politiker könnte damit leben, wenn das Donbass-Becken verloren geht. Wenn es eine Möglichkeit gebe, es wiederzuerlangen, gäbe es starken Druck, einen neuen Krieg zu starten, um das zu tun“, erklärt Kramer.

Ukrainische Soldaten und ein Hund im Dezember in der Nähe von Bachmut (Bild: APA/AFP/Anatolii STEPANOV)
Ukrainische Soldaten und ein Hund im Dezember in der Nähe von Bachmut

Derzeit ist aber an weitere Eroberungen auf beiden Seiten kaum zu denken. Besonders im Donbass in der Ostukraine haben sich die Russen tief eingegraben. Die militärischen und menschlichen Kosten, dieses Gebiet zurückzuerobern, wären enorm. „Jetzt hat der Krieg ein Stadium erreicht, so wie es an der Westfront im Ersten Weltkrieg ab Ende 1914 war. Es ist ein Stellungskrieg“, so der russischstämmige Historiker Vladislav Zubok gegenüber krone.at.

„Kleine Verduns“ in der Ostukraine
Überraschen kann man den Feind nicht mehr, betont Zubok: „Drohnen machen alles transparent, dadurch werden Panzer zunehmend nutzlos. Sobald sie für einen Durchbruch zusammengezogen werden, sieht man das und Artillerie oder Raketen zerstörten sie sofort.“ Aktuell sei es die russische Strategie, den Krieg limitiert zu halten und die ukrainischen Streitkräfte durch dauernde Angriffe zu zermürben. „Russland versucht, kleine Verduns zu schaffen, wie in Awdijiwka, in Bachmut und anderen Städten“, so der Historiker. Die ukrainischen Truppen würden dabei zerrieben: Zwar nicht in so hoher Zahl wie die Russen, insgesamt leide die Ukraine unter dieser Kriegsführung aber mehr.

Drohnaufnahme der verwüsteten Kleinstadt Awijiwka in der Oblast Donezk (Bild: ASSOCIATED PRESS)
Drohnaufnahme der verwüsteten Kleinstadt Awijiwka in der Oblast Donezk

Weil die Situation auf dem Schlachtfeld so aussichtslos ist, macht sich in der Europäischen Union und auch in den USA langsam Kriegsmüdigkeit breit. Russland sei dadurch „in einer großartigen Position, den Krieg zu gewinnen“, analysiert Zubok. Obwohl im Westen Slogans wie „Stopp Putin“ und „Beschützt die liberale Weltordnung“ ausgegeben worden seien, werde der Verteidigungskampf der Ukraine nicht so existenziell wie in Russland gesehen, dass man die Parlamente dazu bringen kann, ein Kriegsbudget zu verabschieden. „Und zwar so viel, dass die Ukraine genug Geld hat, um die Nachfrage an der Front zu befriedigen“, so der Historiker.

Wahlen entscheiden über Unterstützung
Derzeit zeichnet sich nicht ab, dass 2024 die finanzielle und militärische Unterstützung für die Regierung in Kiew steigt. Im Gegenteil: Es stehen Wahlen an, deren Ausgang ein dramatisches Ende der Hilfsleistungen bedeuten kann. Schon jetzt kann der rechtskonservative ungarische Premier Orban, der immer wieder mit Putin liebäugelt, Zahlungen an die Ukraine blockieren. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament können rechtspopulistische und russlandfreundliche Parteien erstarken und dann weitere Hindernisse aufstellen. Auch die Nationalratswahl in Österreich entscheidet mit, inwiefern Sanktionen mitgetragen und Hilfslieferungen weiterlaufen werden.

Mit Spannung erwartet wird vor allem die Wahl zum US-Präsidenten im November. So wie es derzeit aussieht, hat Trump trotz aller juristischer Rückzugsgefechte gute Chancen, Kandidat der Republikaner und sogar wieder Präsident zu werden. In diesem Fall sieht Mark Kramer schwarz. Er verweist auf abstruse Aussagen Trumps in der Vergangenheit: „Er sagte, der Krieg hätte nie begonnen und dass er ihn in einem Tag beenden könne. Ich habe keine Ahnung, was er damit meint“. Schon jetzt gebe es widerstreitende Faktoren im US-Kongress, was die militärische Unterstützung der Ukraine angeht. Ein Wahlsieg Trumps wäre „ein sehr düsteres Szenario“, so Kramer. Im Gegenzug ist er sich aber sicher, dass bei einer Niederlage von Donald Trump die US-Unterstützung für Kiew - trotz aller Hindernisse - weitergehen werde.

Putin könnte bis 2036 an der Macht bleiben
Im März finden Präsidentenwahlen in Russland statt, wo der Ausgang weit weniger unsicher ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass Wladimir Putin wieder gewählt wird, liegt bei 99,99 Prozent, erklärt Mark Kramer lapidar. „Wenn seine Gesundheit mitspielt, ist er bis 2030 an der Macht und wird dann wiedergewählt bis 2036“, so der Historiker.

Im Westen dürfe man sich keinen Illusionen hingeben, dass ein plausibler Weg, den Krieg zu beenden, ein Regimewechsel in Russland sei, mahnt er: „Wenn die westlichen Länder darauf zählen, dass die russische Regierung aufgibt wegen innenpolitischen oder ökonomischen Drucks, dann leben sie in einer Traumwelt.“ Denn niemand in Russland fordert derzeit Putins Regime ernsthaft heraus, große Proteste gegen die Invasion in die Ukraine gibt es aktuell nicht, obwohl sie nicht völlig unmöglich sind.

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Nicht alles, was Putin tut, ist verrückt.

(Bild: zVg)

Vladislav Zubok lehrt internationale Geschichte in London

Auch, weil die Kriegspropaganda derzeit viel effektiver ist als zu Sowjetzeiten, wie Vladislav Zubok anmerkt. Als der Historiker in den 1980er Jahren in Russland studierte, lief die Invasion in Afghanistan. Damals sei darüber gar nicht berichtet worden, jetzt sei die Regierung viel cleverer. „Sie präsentiert die ‚Spezialoperation‘ als Teil einer großen Anstrengung, die mit dem ‚Großen Vaterländischen Krieg‘ gegen Nazi-Deutschland verglichen wird“, so Zubok. „Die Propaganda hat viel besser gewirkt, als jeder von uns erwartet hätte.“ Denn auch Putin haben den Krieg gegen Afghanistan erlebte und seine Lehren daraus gezogen. „Nicht alles, was er tut, ist verrückt, einiges ist bemerkenswert effektiv“, erklärt der Wissenschaftler.

Die Unterstützung für den Krieg ist in Russland weiterhin hoch - trotz immenser Verluste. Während über den Zeitraum von neun Jahren in Afghanistan fast 15.000 sowjetische Soldaten getötet wurden, waren es innerhalb von 22 Monaten - konservativ geschätzt - rund 80.000 tote russische Soldaten in der Ukraine. Dabei hat Russland jetzt halb so viele Einwohner wie die Sowjetunion. „Wir reden hier also von etwa zehnmal höheren Verlusten pro Kopf in der Ukraine als in Afghanistan“, betont Mark Kramer.

Lässt sich der Krieg in der Ukraine wieder „einfrieren“? (Bild: ASSOCIATED PRESS)
Lässt sich der Krieg in der Ukraine wieder „einfrieren“?

„Beide Seiten würden Rache planen“
Auch auf der ukrainischen Seite stapeln sich die Leichen - Schätzungen gehen von bis zu 70.000 toten Soldaten aus. Historiker Vladislav Zubok tritt daher dafür ein, Verhandlungslösungen auszuloten. „Wenn Putins Gegenangriff nächstes Jahr fehlschlägt, sollte jede Chance ergriffen werden, um beide Seiten zu überzeugen, auch nur einen informellen Waffenstillstand zu erreichen. Man muss auch nicht am Verhandlungstisch sitzen“, meint Zubok. Auch von 2014 bis 2022 habe man sich in der Ostukraine noch gegenseitig beschossen, nach und nach sei der Krieg aber gewissermaßen „verblasst“. Ein unsicherer Waffenstillstand werfe freilich die Frage auf, wie man weitere Konflikte verhindert: „Beide Seiten würden ihre Rache planen.“

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