Mitterlabill, steirisches Hügelland. Das Haus der Familie steht weit oberhalb des Dorfes, mit Blick auf einsame Felder. Am Wegrand brennen noch immer Kerzen für die 17-jährige Lena, die hier beim "Car Surfing" tödlich verunglückt ist.
Hans Peter U. sitzt im Rollstuhl am Küchentisch, sein linkes Bein hat er auf ein geblümtes Kissen gebettet. Eine schwarze Trainingshose kaschiert die Verstümmelung 30 Zentimeter unterhalb des Knies. "Wenn es pocht und zieht, dann massiere ich die Stelle mit einem Drahtwaschel", erklärt er. Seine Frau kramt in Arztbriefen. Auf dem Tisch steht ein Tablett mit Medikamenten, im Herrgottswinkel assistieren mehrere Engerl einer Muttergottes aus Gold. An der Wand hängt ein Sprichwort: "Beurteile die Menschen nicht nach ihrem Schicksal, sondern danach, wie sie es meistern."
Das blutige Drama der Selbstverstümmelung vor sieben Wochen. Im Gespräch mit der "Krone" versucht Hans Peter U., das Unbegreifliche begreiflich zu machen. Wie er lebt, wie er leidet, wie er Hoffnung schöpft.
"Krone": Herr U., können Sie selber glauben, was am 26. März passiert ist?
Hans Peter U.: Ich muss es glauben, es war ja niemand da außer mir, als es passiert ist. Obwohl ich mich an die Tat selber nicht mehr erinnern kann. Alles weg, wie ausgelöscht.
"Krone": Was wissen Sie noch?
U.: Ich konnte wieder einmal nicht schlafen. Alles war so schwer. Ich hab' an meinen Freund gedacht und an die Lena, die bei uns vor dem Haus verunglückt ist.
"Krone": Was war mit Ihrem Freund?
U.: Der Karl ist in ein Jauchefassl gefallen und war tot. In derselben Sekunde bin ich mit dem Moped verunglückt. Als hätte er noch um Hilfe rufen wollen. Mein linker Knöchel ist in den Motor geraten. Die Großeltern haben aber keinen Arzt gerufen, weil ich keinen Führerschein hatte. Der Fuß hat mir seither immer weh getan, obwohl das 40 Jahre her ist.
"Krone": Auch in jener Nacht?
U.: Ja. Ich hab' mich richtig in diesen Schmerz hineingesteigert. Mit einem Flascherl Jägermeister, und dann hab' ich noch Selbstgebrannten getrunken. Aus der Flasche, wie man ein Kracherl trinkt.
"Krone": Warum sind Sie in den Keller gegangen?
U.: Ich wollte einheizen, damit es warm ist, wenn meine Frau von der Arbeit nach Hause kommt. Dazwischen bin ich eingeschlafen. Ich wusste aber, dass im Kasten unten die Säge liegt.
"Krone": Sich den Fuß abzutrennen ist ein unvorstellbarer Gedanke. Warum haben Sie das getan?
U.: Ich wollte, dass der Schmerz endlich aufhört. Ich war nicht bei Sinnen. Ich hatte so viel in mich hineingefressen. Ich hab' einen Ausweg aus meinem Gefängnis gesucht, aber alle Ausgänge waren versperrt. Ich wollte nur da raus, tot oder lebendig.
"Krone": Wollten Sie den Fuß absägen?
U.: Ich weiß das nicht, weil ich in einem Ausnahmezustand war. Ich wollte mich vielleicht nur schwer verletzen. Aber dann hatte ich keine Kontrolle mehr über das, was passiert ist.
"Krone": Sie haben den Notarzt gerufen, das Garagentor aufgemacht, Ihren Fuß in den Ofen geschmissen.
U.: Davon weiß ich nichts mehr. Ich weiß, dass ich mein Handy bei mir hatte. Es hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Ich hätte auch leicht ausbluten können. Irgendwann hab' ich dann so einen starken, kalten Luftzug gespürt. Das müssen die Propeller des Rettungshubschraubers gewesen sein.
"Krone": Wann sind Sie zu sich gekommen?
U.: Auf der Intensivstation. Mein Bein hat höllisch weh getan. "Was ist da los?", habe ich die Schwester gefragt. Sie zeigte auf mein Bein. Da wurde mir bewusst, dass ich verstümmelt bin. Aber es hat mich gar nicht berührt.
"Krone": Wann sind die Gefühle zurückgekommen?
U.: Als meine Frau da war. Da wurde mir klar, was ich ihr angetan hatte. Sie hat viel mitgemacht. Mehr als ich. Denn auf mich schauen sie jetzt, die Ärzte.
"Krone": Was sagen die Ärzte?
U.: Sie hören mir jetzt zu. In all den Jahren davor hat mir keiner zugehört. Sie nennen die Krankheit "schwere depressive Episode". Kein Wunder, ich war zehn Jahre lang arbeitslos. Meine Frau hat in der "Krone" gesagt, ich hätte mich wertlos gefühlt. Das trifft es ganz genau. Ich dachte: Die Lena muss sterben, und ich alter Gockel muss leben. Es hat mich ganz fertiggemacht.
"Krone": Gab es niemanden, dem Sie sich anvertrauen konnten?
U.: Die Menschen hätte es schon gegeben, aber ich hab' mich vor ihnen versteckt. Mich hat meine aussichtslose Situation so gequält, ich hab' nicht mehr aus meiner Haut raus können.
"Krone": Wie geht es Ihnen jetzt?
U.: Viel besser. Sicher, ich hab' meinen Fuß verloren. Aber der Druck ist jetzt weg. Ich kann auch schon ein paar Meter mit Krücken gehen. Irgendwer hatte ein Einsehen mit mir.
"Krone": Wer?
U.: Eine höhere Macht... Sonst würde ich heute nicht da sitzen. Da waren Tausende Schutzengel, die Mitleid mit mir gehabt haben. Die mich am Leben gelassen haben, weil mich vielleicht doch noch wer braucht... Meine Frau und ich wachsen jetzt wieder näher zusammen.
"Krone": Zeitungen auf der ganzen Welt haben über Ihren Fall berichtet. Haben Sie einiges davon gelesen?
U.: Bis jetzt nicht. Ich habe nur im Fernsehen gehört, dass mich jemand Taugenichts genannt hat. Dann frage ich Sie: Wer hat dieses Haus gebaut?
"Krone": Wer hat Ihnen am meisten geholfen?
U.: Meine Familie. Die Ärzte, und die Schwester Barbara. Sie war immer so fröhlich. Und eine Frau namens Susanna, sie hat uns einen Brief geschrieben, da mussten wir weinen.
"Krone": Was stand in dem Brief?
U.: "Ich wünsche Euch den Segen des Friedens, des Neubeginns und der Liebe. Ihr seid in meinen Gedanken und Gebeten." Es haben viele Menschen für uns gebetet und sind uns beigestanden. Bei ihnen möchten wir uns ganz herzlich bedanken.
"Krone": Herr U., wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was wäre es?
U.: Dass ich bald auf Reha gehen kann. Dass es keine Probleme mit den Behörden gibt. Dass unser Leben langsam besser wird.
Drama am 26. März
Am Morgen des 26. März 2012 trennt sich der Langzeit-Arbeitslose Hans Peter U. im Heizkeller seines Hauses im steirischen Mitterlabill aus Verzweiflung den linken Fuß ab. Er kann noch selber den Notarzt anrufen und sich in die Garage schleppen. Ein Rettungshubschrauber des ÖAMTC fliegt den lebensgefährlich Verletzten ins Grazer LKH. Sechs Wochen lang liegt er in der Landesnervenklinik Siegmund Freud. U. ist mit Monika verheiratet, das Paar hat zwei erwachsene Kinder.
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