Ukrainer erschöpft
Soldat: „Noch kein Licht am Ende des Tunnels“
In voller Montur, die Mütze über den Augen, schläft ein ukrainischer Soldat auf einer Pritsche in einem Erdbunker. Bei minus acht Grad und Schnee hat er die ganze Nacht Wache gehalten in den Schützengräben nahe der Ostfront bei Kupiansk. „Es ist hart, aber wir halten durch“, sagt sein Kamerad Wadim. Viele Soldaten sind seit Beginn des russischen Angriffs vor knapp zwei Jahren im Einsatz - und am Ende ihrer Kräfte.
Trotzdem kämpfen sie weiter. „Wir haben keine andere Wahl“, sagt der 31-jährige Wadim, Mitglied der 41. Brigade. Zu Beginn des Krieges meldeten sich massenhaft Freiwillige, ihr Land mit der Waffe zu verteidigen. Doch nun hat die ukrainische Armee Schwierigkeiten, Männer für die Front zu finden. Kiew hält seine Verluste geheim, aber nach US-Schätzungen, die die „New York Times“ im August veröffentlichte, wurden bis dahin fast 70.000 ukrainische Soldaten getötet und bis zu 120.000 verwundet.
Soldat über 1. Kriegsjahr: „Hatten vor nichts Angst“
Das Adrenalin habe seine Brigade durch das erste Jahr des Krieges gebracht, das mit dem russischen Großangriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 begann. „Da hatten wir vor nichts Angst“, erzählt Wadim. „Aber jetzt sind wir einfach müde. Nach zwei Jahren sehen wir immer noch kein Licht am Ende des Tunnels.“
Mit einem Blitzangriff befreite die Ukraine im September 2022 Kupiansk und die umliegende Region Charkiw von der russischen Besatzung. Doch seit dem Sommer gehen die russischen Truppen hier erneut in die Offensive. „Sie greifen ständig an und rücken vor“, sagt Wadim. „Es gibt mehr Verletzte, als wir uns wünschen würden“, ergänzt Oleksandr, ein 20-jähriger Soldat. Angesichts der neuen Kämpfe evakuierten die Behörden Mitte Jänner 26 Ortschaften in der Region.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte im Dezember an, bis zu einer halben Million weitere Soldaten zu mobilisieren, um gegen die rund 600.000 in der Ukraine stationierten Russen zu kämpfen. Seitdem tobt in der Ukraine eine Debatte über neue Einberufungen. Anfang Jänner vertagte das Parlament die Entscheidung über einen Gesetzentwurf zur Mobilmachung. Das derzeitige Rekrutierungssystem gilt als ungerecht, ineffizient und oftmals korrupt. Und es werden Stimmen laut, die eine Heimkehr derjenigen fordern, die schon lange an der Front sind.
Solange keine neuen Soldaten rekrutiert werden, müssen Wadim und seine Kameraden in den Schützengräben ausharren. „Natürlich wollen wir die Demobilisierung“, sagt Wadim. „Ich habe meine Familie seit sechs Monaten nicht mehr gesehen.“ Es gehe nicht um zehn Tage Urlaub, sagt er. „Das würde uns nichts bringen, das ist keine Erholung. Mindestens sechs Monate frei, das wäre besser.“
Die patriotische Stimmung, in der sich 2022 Tausende Ukrainer freiwillig zum Dienst meldeten, ist vorbei. „Jetzt sind es vor allem ältere Männer, die eingezogen werden“, sagt Oleksandr und fordert eine weitere Mobilmachung. „Wir haben die Leute dafür“, sagt er. „Seit den ersten Tagen der Invasion sind wir fast immer an der Front gewesen“, merkt Wadim an. „Die Jungs sind erschöpft - geistig und körperlich. Sie können einfach nicht mehr.“
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