Mit seinem Klavierspiel verbindet der US-Amerikaner zeitgenössischen Jazz, Free Jazz, Blues und Avantgarde. Unlängst konzertierter mit seinem neuen Album „Technically Acceptable“ im Wiener Porgy & Bess und stand uns davor Rede und Antwort.
Der amerikanische Jazz-Pianist Ethan Iverson ist ein Teamplayer. In den 2000er-Jahren begeisterte er mit The Bad Plus, dazwischen und später konzertierte und spielte er immer wieder mit großartigen Musikern unterschiedlichste Klang-Couleur. Für sein zweites, und sehr selbstironisch betiteltes Blue-Note-Album „Technically Acceptable“ hat sich der 50-Jährige nicht nur mit Thomas Morgan und Kush Abadey in Trio-Besetzung zusammengetan, sondern erstmals in der Label-Geschichte auch eine Klaviersonate auf das Werk gepackt. Daneben huldigt er Thelonious Monk und Roberta Flack, während er sich mit Theremin und einem weiteren Trio (Simón Wilson und Vinnie Sperrazza) austobt. Vor seinem Konzert im Wiener Porgy & Bess gab uns Iverson Einblicke in sein neues Album, seinen Zugang zu Jazz und warum er sich seit zwei Dekaden auch schreibend als Chronist der Szene sieht.
„Krone“: Ethan, vergangenen Donnerstag hast du mit Thomas Morgan und Kush Abadey im Porgy & Bess konzertiert. Eine Venue, in der du schon einige tolle Shows absolviert hast …
Ethan Iverson: Ich liebe Mozart und Brahms genauso wie Arnold Schönberg. Christoph Huber, der Chef des Porgy & Bess, hat mir immer Geschichten von Friedrich Gulda und Joe Zawinul erzählt und wie sich gegenseitig gemessen haben. Da waren viele, wirklich lustige Storys dabei.
Du hast hier schon mit deiner alten Band The Bad Plus gespielt, aber auch mit Dave King oder dem Billy Hart Quartet. Macht es für dich einen großen Unterschied, in welcher Konstellation du wo musizierst?
Mit The Bad Plus war ich öfters hier und mit Billy Hart mindestens einmal. Es waren drei verschiedene Gruppen und ich bin sehr stolz, dass ich überall mit dabei war. Mit Thomas und Kush ist das Feeling wunderbar. Am Wichtigsten ist eine gute Gruppendynamik. Es ist für mich nicht notwendig, dass ich mein eigenes Spiel zwingend in den Vordergrund stelle. Wenn die Band perfekt zusammenspielt, dann bin ich zufrieden.
Gibt es Tricks bzw. wichtige Parameter, wie man auf Tour für alle Beteiligten eine möglichst angenehme Atmosphäre schafft?
Man sollte nicht zu viel reden. In dieser Konstellation bin ich vielleicht der Bandleader, aber Thomas und Kush sind so großartige Musiker, dass sie natürlich keine Tipps brauchen. Ich will, dass sie so frei wie möglich sind, um sich und ihre Stärken einzubringen. Ich weise maximal auf eine Note hin, damit wir einen Song gemeinsam beenden, aber während des Liedes soll es so viel Raum wie möglich geben. Die beiden sind großartige Komponisten und wissen genau, wie man andere begleitet.
Dein neues Album hast du „Technically Acceptable“ genannt. Das ist so ziemlich das ironischste Understatement, das mir in dieser Form seit langer Zeit vor die Augen gekommen ist …
(lacht) Ich versuche mich ganz allgemein nicht zu ernst zu nehmen. Wenn du John Coltrane bist, dann bist du so gut, dass du keinen Humor zeigen musst. Aber als jemand, der definitiv kein Coltrane ist, kann man ruhig ein bisschen selbstironisch sein.
Du hast in ein paar Interviews Parallelen gezogen zwischen deinem 1993er-Debütalbum „School Work“ und dem neuen Werk. Wo ist hier die Verbindungslinie?
Es gibt da eine Dreierlinie, die sich bei den Albumtiteln durchzieht. 1993 war „School Work“, 2003 das The-Bad-Plus-Album „These Are The Vistas“ und im Jahr 2024 haben wir nun „Technically Acceptable“. Ich arbeite mich also vor zum nächsten Album, das irgendwann einmal „Ethan Iverson Is Perfect“ heißen könnte. (lacht) Ich befinde mich auf einer andauernden Reise. Ein Konzert ist ein Teil davon, genauso wie ein Album. Ich arbeite immer an verschiedenen Dingen und es gibt keinen konstanten Strom, den man bei mir verfolgen kann. Ich bin ganz gut im Free Jazz und Bebop-Bereich unterwegs, aber auf meinem neuen Album gibt es auch eine Klaviersonate - übrigens die erste, die je auf Blue Note Records erschienen ist. Ich sehe mich als Student der Musik und ihrer Historie und ich hoffe, dass ich mit jedem Schritt ein bisschen weiter nach vorne schreite.
Das Album lässt sich grob in drei Teile aufsplitten. Das erste Drittel ist eine Verbeugung vor großen Jazz-Standards, das zweite Drittel ist ein Cover-Block, im dritten gibt es die angesprochenen Sonaten. Wie bist du auf diese Idee bzw. Einteilung gekommen?
Eigentlich war „Technically Acceptable“ als Trio-Album mit Thomas und Kush geplant, aber irgendwie haben sich die anderen Sektionen plötzlich so ergeben. Ich war mir nicht sicher, ob das genug Musik gewesen wäre und wollte, dass jeder Song heraussticht. Die Sonate hat mir sehr gut gefallen, also habe ich sie auf das Album gepackt. Zudem gab ich ein Konzert mit Rob Schwimmer, der den Klassiker „‘Round Midnight“ am Theremin spielte. Das wurde ein Hit und mir klar, dass dieses Lied auch auf das Album rauf muss. Dazu noch ein paar Balladen und das Ganze war fertig. Ich kann verstehen, dass das Werk von außen ein bisschen chaotisch gestückelt wirkt, aber für mich hat sich alles ganz natürlich und sehr angenehm ergeben.
„‘Round Midnight“ ist ein legendäres Thelonious-Monk-Stück, das dir im Zuge der Albumzusammenstellung einfach so passiert ist?
Definitiv. Die ersten paar Songs auf dem Album, die ich mit Kush und Thomas eingespielt habe, sind in gewisser Weise konservativ. Wenn du nicht ganz genau weißt, was ich da mache, klingt es so, als würde ich ein bisschen Jazz spielen. Aber niemand packt „‘Round Midnight“ auf einem Theremin gespielt auf ein Album, wenn er nicht ein großer Fan von experimenteller Musik wäre. Ich sehe mich sehr als experimenteller Musiker und versuche mich immer mit der Avantgarde zu verbinden. Das ist meine musikalische Identität.
Fällt es dir nach mehr als 30 Jahren als Profimusiker zunehmend schwerer, dich selbst zu überraschen oder ist die Quelle dafür noch lange nicht am Versiegen?
Das ist eine gute Frage. Ich fühle keine Spannung in diese Richtung. Eigentlich bildet sich alles sehr natürlich. Die Musik ist stark mit mir verwurzelt, aber es kann natürlich sein, dass auch dieser Strom irgendwann einmal am Versiegen ist. Prinzipiell kann man nie genug wissen und dort liegt auch die Gefahr für einen Künstler. Dass man zu analytisch ans Werk herangeht und die richtige Spur verpasst. Ich fürchte das bei mir eigentlich nicht, aber wenn mich jemand mit einem solchen Vorwurf konfrontieren würde, hätte derjenige natürlich das Recht dazu, das so zu sagen.
Was war die größte Herausforderung bei der Zusammenstellung dieses Albums?
Also mit der Klaviersonate hat wahrscheinlich auch Blue Note nicht gerechnet. (lacht) Die Antwort mag ein bisschen banal erscheinen, aber am schwierigsten ist es immer noch, swingenden Jazz zu spielen. Der Albumtitel ist in dem Sinn auch gar kein Scherz, denn meine Art, Rhythm-&-Blues zu spielen ändert sich mit Kush und Thomas und gemeinsam ist es dann „Technically Acceptable“. Ich habe Wynton Kelly oder Sonny Clark gehört - die legen die Latte schon sehr hoch und da kommen wir nicht wirklich hin.
Für mich wirkt das Album so, als wäre es eine Hommage an bestimmte Musiker oder Komponisten aus der Jazz- und Klassik-Historie.
Das Wort postmodern trifft wohl am besten auf das Album zu. Es gibt ein berühmtes Zitat eines Architekten, das mir sehr gut gefällt. „Jetzt, wo wir alles machen können, was machen wir?“ Wir haben nicht nur zeitgenössischen Jazz am Album, sondern gehen über diese Grenzen hinaus. Wenn ich meine Klaviersonate spiele, dann kommen die Leute respektvoll auf mich zu und sagen mir, dass sie ganz nach mir klingt. Das ist ein schönes Kompliment. Der Kern der Kompositionen beinhaltet meine Identität. Wenn du mich in einer Art Blindverkostung spielen hören würdest, dann weißt, dass ich es bin. Das ist mir bei meiner Musik auch sehr wichtig.
Etwa bei „Killing Me Softly With His Song“, den Kult-Track von Roberta Flack, den du dir zu eigen gemacht hast.
Ich habe diesen Song immer geliebt und es gibt davon kaum Versionen von Pianisten. Ich habe den Song in der Version von Hampton Hawes kennengelernt und nicht in jener von Flack. Die Hawes-Version ist sehr jazzig, während meine sich doch stark auf die klassischen 60er-Jahre beruft. Ich habe den Song über die letzten Jahre öfters gespielt und die Leute fanden ihn sehr schön, haben sich oft bedankt. Es ist wichtig, dass man das Publikum glücklich macht und es war zudem an der Zeit, ihn endlich mal aufzunehmen.
Als jemand, der gerne experimentiert und sich musikalisch der Avantgarde-Schiene zugehörig fühlt - macht dir die Zukunft mit künstlicher Intelligenz Sorgen oder kannst du dich als klassischer Handwerker gut davon befreien?
Die Musik, die ich liebe, besteht aus vielen Mysterien und Unklarheiten. Das Schöne daran ist, dass niemand sie erklären kann. Ich mache mir bezüglich KI keine Sorgen, weil dieses Mysteriöse und Unerwartete, das den Jazz auszeichnet, dort nicht vorkommt. Ich habe niemals Keyboards oder Synthesizer gespielt und habe auch nie am Computer komponiert. Wenn du in diesen Sphären unterwegs bist, ist die KI vielleicht interessanter. Wie erschließt du dir neue Klangoberflächen in einer bereits existierenden, binären Musikwelt? Ich spiele aber das Piano und daher ist dieses Thema für mich nicht relevant.
Für Musiker könnte die KI am Ende sogar Gutes bedeuten, denn wenn man vom glattpolierten Mainstream-Pop absieht, lieben die Leute bei Konzerten Imperfektion und Fehler. Diese menschliche Komponente wird in Zukunft noch deutlicher hervorstechen.
In der Popmusik kann es nicht mehr reiner und glattgebügelter werden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir hier bereits die Spitze erreicht haben. Zwischen Autotune und Backing Tracks gibt es keinen Platz mehr für ein Gehirn. Insofern hast du wohl recht, was diese Entwicklung anbelangt.
Der Jazz lebt natürlich von seinem Handwerk und den Fertigkeiten, aber welchen Anteil an einer erfolgreichen Produktion nehmen für dich die menschlichen Komponenten Bauchgefühl, Herz und Seele ein?
Dafür ist der Terminus „Blues“ wichtig. Niemand kann dieses Wort genau erklären oder wird es jemals erklären können, aber der Blues ist in seiner Grundstruktur ein seelenvoller Ausdruck von Gefühlen. Allein schon von dem heraus ist er imperfekt. Im Jazz brauchen wir diese Form der Imperfektion. Es gibt auch den Jazz ohne Blues, aber der Jazz, den ich liebe, der hat zumeist Blues-Elemente verinnerlicht. Der Blues ist ein wichtiger Teil für das Gesamterlebnis.
Du führst seit mittlerweile 20 Jahren deinen Blog „Do The Math“, wo du u.a. ausufernde und interessante Interviews mit anderen Jazzgrößen und Musikern führst. Hast du deiner Meinung nach einen tieferen Blick in die Seele der Musik, weil du sie nicht nur spielst, sondern auch analysierst und über sie schreibst?
Thomas und Kush sind auch Historiker. Kush weiß so gut wie alles über Schlagzeuger und das weit über den Jazz hinaus. Thomas‘ Wissen schüchtert mich manchmal richtiggehend ein. Sie haben nur nicht meinen Weg gewählt, dieses Wissen und Interesse online verfügbar zu machen. Komponisten haben früher auch Tagebücher und Briefe geschrieben. Denk an die Briefe von Schumann oder Debussy oder die Hintergründe von Filmregisseuren. Als das Internet sich breitenwirksam durchgesetzt hat, wurden diese Hintergrundinfos zum Teil öffentlich und stießen zunehmend auf Interesse. Sie haben mich inspiriert, hoffentlich auf positive Art und Weise. Ich habe mir überlegt, was mich aus dieser Welt interessiert. Viele Musiker finden, als Musiker sollte ich nicht über Musik schreiben. Das ist absolut gerechtfertigt, aber mich hat diese Leidenschaft noch nie behindert oder aufgehalten.
Wobei man aber auch hervorheben muss, dass du Interviews machst und tief hinter die musikalischen Fassaden blickst. Du schreibst keine Rezensionen, kritisierst andere Musiker also nicht.
Es geht mir um den historischen Aspekt. Ich befrage Musiker, die in meiner Welt tätig sind und urteile nicht über sie. Würde ich anfangen, Reviews zu schreiben, würde das die Sache erheblich schwieriger machen, weil ich nicht so viele Zugänge kriegen würde.
Was interessiert dich besonders an den Künstlern, die du befragst? In welche Gegenden willst du bei den Interviews vordringen?
Ich habe bislang ca. 50 Interviews geführt und manche sind wirklich gut geworden. Ich interessiere mich nicht für das Privatleben und Persönliches. Ihre Probleme, Freuden und Emotionen sind mir nicht so wichtig wie die Fragen, welche Musik sie berührt, warum sie Musik machen oder wie sie Musik für sich verstehen. Ich habe gehört, dass Keith Jarrett unglaublich schwierig zu interviewen sein würde, aber ich habe ihn nur mit technischen Fragen und sehr basischen Jazzthemen gelöchert. Er war offensichtlich sehr froh darüber, dass er sich in einem Gespräch einmal nicht über sein Leben oder den Zustand der Welt und die Tagespolitik äußern musste. Er hat mich später sogar für ein Thema als Interviewer angefragt, was mich sehr gefreut hat.
Bist du eigentlich bei allen Musikern durchgekommen, die dich bislang interessiert haben, oder musstest du auch mal auf Granit beißen?
Ich wollte früher unbedingt mit Paul Motian sprechen, aber er hat abgelehnt. Das war natürlich schade. Es gibt noch viele Musiker, mit denen ich reden möchte, oder die sich dafür auftun, aber 50 sind auch keine schlechte Quote. Damit bin ich durchaus zufrieden.
Hast du nach 20 Jahren „Do The Math“ noch immer dieselbe ungebrochene Motivation, wie sie die sie auch als Musiker am Piano verspürst?
Es liegt an mir, wie viel Motivation ich dafür habe. Mittlerweile rentiert sich das Projekt auch finanziell, weil etwas Geld hereinkommt. Die Klaviersonate ist ein guter Grund, um weiterzuschreiben, weil ich damit wieder neue Inhalte für meine Leser habe. Der legendäre Max Roach hätte unlängst seinen 100. Geburtstag gefeiert, über ihn habe ich online noch gar nichts geschrieben. Ich habe auf der Zugstrecke von Budapest nach Wien recherchiert und über Max geschrieben. Für mich ist das eine wundervolle Art, einen Tag zu verbringen, wenn man sowieso reisen muss.
Woran arbeitest du aktuell und was wird dieses Jahr nach der aktuellen Tour noch so alles passieren?
Ich habe noch viel mehr Sonaten geschrieben für diverse Instrumente und natürlich für mich am Klavier. Das wird ein 2-CD-Set namens „The Playfield Sonatas“. Ich arbeite auch an Beatles- und Burt Bacharach-Projekten mit interessanten Musikern. Ich spiele natürlich weiterhin mit Billy Hart, der mein großer Jazz-Mentor ist. Mit Bassist Ben Street und Saxofonist Walter Smith III sind Liveprojekte geplant, die sich bislang noch nicht ausgegangen sind. Das wird eine schöne, neue Erfahrung.
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