Schon 1933 hätte das Stück „Der Nebel von Dybern“ der jüdischen Autorin Maria Lazar das Grazer Publikum aufrütteln sollen. Das wusste der grassierende Antisemitismus zu verhindern. Jetzt, 91 Jahre später, gelingt dem Schauspielhaus ein beklemmend-fesselnder Abend.
Erst sterben die Tiere, dann werden auch die Menschen krank. Bis schließlich die junge Agnes von innen her verbrennt. Es ist der mysteriöse Nebel, der rund um den Ort Dybern seine Opfer fordert. Und die Bewohner in Unruhe versetzt. Die nahe gelegene Fabrik gerät schnell in den (berechtigten) Verdacht, Verursacher dieser „Zwischenfälle“ zu sein, noch schneller setzen die dort Verantwortlichen alles daran, diesen Verdacht zu relativieren und schließlich mit Gewalt zu unterdrücken.
Hellsichtige Gesellschaftsanalyse
Maria Lazar (1895 bis 1948) hat mit ihrem Text nicht nur auf die Giftgasangriffe des Ersten Weltkriegs reagiert, sondern ungemein hellsichtig eine Gesellschaft seziert, in der das gemeinsame Wollen in ein Jeder-gegen-Jeden umschlägt, Verlogenheit und brutale Unterdrückung die Oberhand gewinnen. „Wenn ein Gerücht nicht wahr ist, sperrt man keine Menschen ein, braucht man kein Militär“, sagt die schwangere Barbara an einer Stelle, aber da ist es schon zu spät. Der Wind hat längst gedreht!
Regisseurin Johanna Wehner macht in ihrer Inszenierung deutlich, wie sehr uns diese Entwicklung heute angeht, obwohl sie auf aktuelle Anspielungen bewusst verzichtet. Lazars Text ist stark genug. Wohl gesetzte Pausen, musikalische Akzente (Vera Mohrs) und ein groß aufspielendes Ensemble sorgen für jede Menge Spannung und Beklemmung. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den starken Frauenrollen, etwa die blinde Seherin Kathrine, der Anke Stedingk große Präsenz verleiht. Spannend auch, wie sich Wirtin Barbara (Marielle Layher) von einer Nicht-Wissenden in eine Klarsichtige verwandelt. Otiti Engelhardt wiederum versucht sich als Gattin des Fabrikanten aus dem Kindchenschema zu lösen, und Anna Klimovitskaya als Heilsarmeeschwester übt sich konsequent in Realitätsverweigerung.
Furchteinflößend ist das Trio infernal aus dem Fabrikanten (Tim Breyvogel), der mit allen Mitteln gut aus der Sache aussteigen will, dem jeden Widerstand mit Gewalt unterdrückenden Ingenieur Alexis (Simon Kirsch) und dem selbst für eine eigene Meinung zu feigen Arzt (Sebastian Schindegger), gegen die der alles schön redende Wirt Josef (Maria Lopatta) und der aufmüpfige Jan (Thomas Kramer) keine Chance haben.
Für Düsternis sorgt nicht nur der Nebel
Für Düsternis sorgen aber nicht nur Lazars bitterböser analytischer Blick und die klare, schnörkellose Regie Wehners, sondern auch Benjamin Schöneckers Bühne mit ihrer abgehalfterten Moderne und Miriam Draxlers metallisch schimmernde Kostüme.
Mit „Der Nebel von Dybern“ ist dem Schauspielhaus Graz ein beklemmend-fesselnder Abend gelungen, der nicht zuletzt durch seine Aktualität für viele Gänsehautmomente sorgt. Er zeigt auch, wie stark Maria Lazar als Dramatikerin und wie verdient ihre Wiederentdeckung ist.
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