Neues Album „Tangk“

Bei den Idles darf die Liebe rustikal klingen

Musik
16.02.2024 09:00

Nach Jahren voller unkontrollierter Wut und Angriffslust finden die britischen Durchstarter Idles auf ihrem fünften Album „Tangk“ den Weg zur Liebe in all ihren Facetten. Im Frühsommer stellen sie das Meisterwerk live beim Lido Sounds in Linz vor.

(Bild: kmm)

Erweckungserlebnisse auf dem Live-Sektor werden selten, wenn man oft auf Konzerte geht. Selbst großartige Shows verschwinden retrospektiv gerne im Nebel des Vielen und bleiben nicht so memorabel in Erinnerung, wie sie es verdient hätten. Umso beeindruckender sind dann jene Gigs, die selbst bei einer Jahresbilanz von Hundert Events aufwärts noch lange nachhallen. Das britische Postpunk-Rock-Kollektiv der Idles hat das Open-Air-Areal der Wiener Arena letztes Jahr in Stücke gerissen. Gitarrist Lee Kiernan setzte schon beim ersten Song zum Stage-Diving an, Kollege Mark Bowen folgte ihm kurz darauf. Frontmann Joe Talbot wirbelte wie ein Irrer über die Bühne, dirigierte das devote Publikum mit Fingergesten und animierte mit sozialkritischen Texten zum Wutauslass. Gitarrenmusik ist länger wieder salonfähig, aber so pur, rau, unverfälscht und im positiven Sinne irre wie die Idles ist momentan niemand sonst.

Der Tod ist allgegenwärtig
Szenenwechsel in die Gegenwart. Nach zweieinhalb Jahren Wartezeit haben die fünf Briten endlich ihr fünftes Studioalbum fertiggestellt. Die Single-Vorabauskoppelungen „Dancer“ und „Grace“ haben schon letzten Herbst angedeutet, dass nun neue Ufer angesteuert werden. Frontmann Joe Talbot ist mit seiner muskulös-proletoiden Optik und der traurigen, tiefgehenden Lebenshistorie der Inbegriff von ambivalenter Männlichkeit. Er verarbeitete den Tod seiner Mutter auf dem Debütalbum „Brutalism“, der Limited Edition legte er gar Teile ihrer Asche bei. Noch im selben Jahr (2017) musste er miterleben, wie seine erste Tochter tot auf die Welt kam. Wie viel Schmerz kann ein Mensch ertragen? Talbot ging im realen Leben keinem Konflikt und keiner Schlägerei aus dem Weg, in seinen Songtexten fand der innerliche Feingeist aber zunehmend ein Ventil, um mit Wut, Trauer, Verzweiflung und schierer Fassungslosigkeit anders umgehen zu können.

Heute feiern die Idles als Band ihr 15-jähriges Jubiläum. Der Waliser Talbot wird 40 und seine erste, aber doch zweite Tochter trat im Herbst in die Volksschule ein. Schon bei den Songwritingsessions zum letzten Album „Crawler“ (2021) sei Talbot klar geworden, dass er seinem Leben und der Musik eine neue Richtung geben wolle. Warum nicht die Liebe ins Zentrum stellen und die Wut beiseiteschieben? Warum nicht die Therapie außerhalb der Band auch in die Band tragen? Man kann schließlich auch angriffig und edgy sein, ohne dabei gleich immer alles niederreißen zu wollen. Vom Albumtitel (spricht man „Tank“, also „Panzer“, aus, das „g“ ist stumm) und der Explosion am Artwork sollte man sich nicht verunsichern lassen. Es geht viel mehr um eine Implosion. Eine Implosion der Gedanken und Emotionen und eine Richtungsänderung, die nach vier großartigen, aber zum Schluss schon etwas ähnlichen Alben notwendig war.

Mehr Raum für Neues
Das etatmäßige Produzenten-Duo Kenny Beats und erwähnter Bandgitarrist Bowen hat sich dieses Mal in den Mainstream getraut und Nigel Godrich ins Boot geholt. Den kennt man nicht zuletzt von seiner bahnbrechenden Arbeit mit den ewigen Innovatoren Radiohead, was Bowen anfangs Respekt abverlangte. Doch schnell lernte er, dass am Ende des Tages jeder Mensch aufs Klo geht. Egal, welche Vita dahintersteckt oder wie schwer die Vorschusslorbeeren wiegen. Dass „Tangk“ klanglich stellenweise völlig von älteren Idles-Alben abkehrt, ist mehr Bowen als Godrich zu verdanken. „Die Leute glauben, dass Nigel für unseren neuen Sound verantwortlich ist. Dabei war er derjenige, der uns ständig eingebläut hat, nicht den Kern der Band außer Acht zu lassen.“ Godrich gab Bowen ein paar Nachschulungen bei Delays, Verzerrungen und Tape Loops, Letzterer ließ seiner vor wenigen Jahren entdecken Liebe zur Elektronik noch mehr Raum.

Dazu bekommt Talbot auf „Tangk“ den musikalischen Boden für seinen wiederholten Seelenstriptease bereitet. In „Gift Horse“ referiert er über Wiedergutmachung und Hoffnung, „Roy“ ist ein sperriges Lied über die Liebe in Zeiten voller Selbstzweifel und „Grace“ stellt mit psychedelischen Klängen das Wichtigste ins Zentrum: „No God, No King, I Said Love Is The Thing“. Dazwischen lauern immer wieder Überraschungen. Etwa die vielen tanzbaren Stellen, die sich in den elektronisch verstärkten, trotz aller Dissonanzen sehr hörbaren Songs auftun. Oder die butterweiche Pianoballade „A Gospel“, deren Instrumentierung an die jüngst erfolgreiche Kooperation von Soap & Skin mit Tocotronic erinnert und in der Talbots Stimme jeden Schutzwall, jede Abdeckung beiseiteschiebt, um mit fliehenden Fahnden Verletzlichkeit und Offenheit zu predigen.

Weg mit dem Schutzpanzer
Die Single „Dancer“ ist durch ihre Zugänglichkeit nicht umsonst zur ersten Single ausgewählt worden, „Gratitude“ ist eine predigende Nummer im erzählerischen Nick-Cave-Stil, doch neben all den Überraschungen gibt es auch noch Nachvollziehbares für die Old-School-Fanfraktion. „Jungle“ ist noch am ehesten den Idles der alten Tage entlehnt, das kurios betitelte „Hall & Oates“ hingegen wühlt im unverfälschten Hardcore-Nihilismus. „Tangk“ ist nicht nur eine Bewährungsprobe für die zukünftige Ausrichtung der Band, sondern auch ein Mahnmal für eine Arbeiterklassemannschaft, die durch tiefste Tiefen schritt, aber immer wieder von der Kunst und schlussendlich ihren ständig zahlreicher werdenden Fans aufgefangen und wieder angetrieben wird. Den im Bandkosmos ohnehin nicht sonderlich geliebten „Postpunk“-Stempel muss man langsam abkratzen, was wiederum ziemlich viel für die Zukunft verspricht. Musik ist immer dann am schönsten, wenn sie sich völlig öffnet und jede Form eines Schutzpanzers abstreift. Das macht „Tangk“ zu einem Meisterwerk.

Live beim Lido Sounds
Wer sich von den eingangs erwähnten Live-Qualitäten der Idles überzeugen will, der kommt Ende Juni zum Lido Sounds am Linzer Urfahranermarkt. Dort werden die Idles am Sonntag, 30. Juni, mit Größen wie Sam Smith, den Libertines oder Soap & Skin das Festival beschließen. Unter www.oeticket.com gibt es noch Karten - für mehr Musik und viel mehr Liebe!

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