Noch immer dauert es zumeist viele Jahre, bis neue innovative Arzneimittel für Patienten mit nicht ausreichend behandelbaren Erkrankungen auf den Markt kommen. Nun soll jedoch Künstliche Intelligenz die Entwicklungsarbeiten beschleunigen. Pharmakonzerne wie Amgen, Bayer und Novartis wollen mit ihrer Hilfe vor allem die Phase der klinischen Erprobung verkürzen.
In der Arzneimittelentwicklung sind die klinischen Studien mit Probanden zu Verträglichkeit, Dosisfindung und Wirksamkeit der teuerste und oft auch zeitaufwendigste Abschnitt. Außerdem kommt es häufig zu Fehlschlägen mit dem Verlust von Millionen Euro an investiertem Kapital. Das Ziel ist es schon seit Jahren, die für klinische Studien aller Phasen notwendige Zeitspanne zu reduzieren, die Zahl der Probanden zu verringern und sich womöglich Placebo-Kontrollgruppen zu ersparen.
Um das alles zu erreichen, setzen die großen Pharmakonzerne offenbar zunehmend auf Systeme, die mit Künstlicher Intelligenz und Selbstlern-Kapazitäten (Machine Learning) ausgestattet sind. „Wir befinden uns wirklich in einem historischen Moment, in dem wir ein Zusammenspiel von bisher ungeahntem Zugang zu Daten und zu fortgeschrittenen Analyse-Werkzeugen erleben“, stellte dazu Rob Lenz, Vizechef für Global Development von Amgen, in einer Presseaussendung fest.
Schneller erfolgreich
Der Konzern hat vor einiger Zeit sein ATOMIC-Projekt gestartet (Analytical Trial Optimization Module). „Wir wollten dazu in die Lage versetzt werden, klinische Studien schneller zu planen und mit ihnen eine höhere Erfolgsquote zu erzielen“, sagte Matt Austin, Chef der Datenanalyseabteilung. Die KI-Benutzer unter der Pharmaindustrie wollen zunächst einmal schneller spezialisierte Krankenhausabteilungen für klinische Studien an den geeignetsten Orten auswählen.
Das Problem: 15 Prozent aller Zentren, die sich an klinischen Studien beteiligen wollen, nehmen im Laufe der Untersuchungen keinen einzigen Patienten auf. Viele beteiligte Institutionen kommen nicht auf die geplante Zahl von Patienten. Die Hälfte der Zeit für die klinische Phase der Erprobung potenziell neuer Medikamente benötigt allein die Aufnahme von Probanden.
Gigantische Datenmengen
Amgens ATOMIC-Programm wird mit einer unerhörten Fülle von Daten gefüttert: Informationen aus an den einzelnen Studienzentren bereits durchgeführten Studien, Infos aus öffentlich zugänglichen Datenbanken, Regionaldaten (wie häufig ist eine Erkrankung in einer bestimmten Region) und Informationen über die Studienzentren selbst. Am Ende entsteht eine Rangliste von Institutionen, die für das Klären einer bestimmten Fragestellung in der Medizin am besten geeignet sein sollen.
Der US-Konzern benutzte sein EDV-Werkzeug beispielsweise für die Auswahl von Studienzentren zur Untersuchung einer Cholesterin-Medikation. Auf Basis von „Real World Data“ identifizierte das Programm mögliche Studienzentren in Regionen, in denen besonders viele Menschen erhöhte Konzentrationen an „bösem“ Cholesterin im Blut aufwiesen. Laut den Angaben des Unternehmens kann ein solcher Zugang helfen, 50 Prozent weniger mögliche Probanden zu untersuchen, um eine wirklich geeignete Testperson zu finden.
Doch die Entwicklung geht noch viel weiter. Mithilfe der neuen Analysemethoden und der anonymisierten Daten von Millionen Menschen lassen sich praktisch für jede Fragestellung in klinischen Studien „künstliche“ Placebo- bzw. Kontrollgruppen definieren. KI und die von ihr gebildeten „externen Kontrollgruppen“ eignen sich für die Untersuchung rund um seltene oder sehr seltene Erkrankungsbilder, für die man nur schwer Probanden findet. Das gilt auch für Fragestellungen, in denen es unethisch wäre, ein Placebo zu verwenden.
Hunderte Anträge
Amgen hat diese Strategie bereits bei der Entwicklung von Blinatumomab gegen eine Form der akuten lymphatische Leukämie (ALL) verwendet. Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat das Medikament schließlich auch auf der Basis einer externen Kontrollgruppe zugelassen, gleichzeitig aber das Nachholen einer entsprechenden herkömmlichen Wirksamkeits- und Sicherheitsstudie mit realen Probanden verordnet. Die FDA hat übrigens innerhalb von fünf Jahren (bis 2022) bereits rund 300 Anträge für die Verwendung von KI in der Arzneimittelentwicklung erhalten.
Experte mahnt zu Vorsicht
Freilich, es gibt auch deutliche Bedenken zur Verwendung von KI und Deep-Learning-Prozessen in klinischen Studien. Die Softwareentwicklung kann immer nur auf bereits vorhandenem Wissen aufbauen. Und das, so meinen Experten wie der US-Onkologe Richard Pazdur (FDA), berücksichtigt nicht bisher Unbekanntes. Man sollte also bei allem Wunsch nach schnellerer und kostengünstigerer Entwicklung von Arzneimitteln vorsichtig sein.
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