Innerhalt von nur wenigen Jahren wurde aus einem talentierten YouTube-Coverkünstler der vielleicht größte Star grenzensprengender Populär- und Jazzmusik. Jacob Collier veröffentlicht nach vier Grammys nun sein fünftes Album „Djesse Vol. 4“ und kommt im Herbst wieder nach Wien. Im „Krone“-Talk erzählt er ausführlich, warum Musik für ihn absolut gar keine Limitierungen besitzt.
Wenn Sie Musik mögen, haben Sie sicher schon Namen wie Stormzy, John Mayer, John Legend oder Chris Martin vernommen. All diese Künstler sind Weltstars in ihren jeweiligen Stilen von Pop über Folk bis zum Rap, finden sich am Ende des Tages aber alle beim jungen Briten Jacob Collier zusammen. Der 29-Jährige mag zwar noch nicht den weltgrößten Namen haben, ist momentan aber so etwas wie das perfekte Bindeglied zwischen einem Weltstarauftrieb und eigener, steigender Prominenz. Er stammt aus einer musikalischen Familie, wurde vor exakt zehn Jahren von Michael-Jackson-Intimus Quincy Jones entdeckt und produziert und über Nacht zum Internetphänomen. Zuerst mit gecoverten Songs via YouTube, dann mit eigenen Kompositionen. Für seine ersten vier Studioalben erhielt er jeweils einen Grammy, was Rekord bedeutet. Noch beeindruckender ist seine Stilvermengung. Er vermischt klassischen Jazz mit R&B, Rhythm ’n’ Blues, Pop, Klassik und Chorklängen - auf seinem neuen Werk „Djesse Vol. 4“ vernimmt man sogar vereinzelte Metal-Schreie. Die Gästeliste ist einmal mehr beeindruckend.
Es geht um das Überraschungsmoment
Das vierteilige Grobkonzept bringt er nun knapp vor seinem 30er wie geplant zu Ende. Die Serie soll im Groben vier verschiedene Tageszeiten repräsentieren und wurde in ein dementsprechend eklektisches Klanggewand gewickelt. In Wien spielte Collier bereits in der jazzigen Tradition des Porgy & Bess, dem prunkvollen Konzerthaus-Saal und letzten Sommer Open Air in der ursprünglichen Atmosphäre der Wiener Arena. Collier betritt die Bühne für gewöhnlich mit Crocs und in kunterbunten Gewändern. Das Publikum wird allabendlich aktiv in die Show eingebunden, singt mit und steht für den rastlosen Künstler auf einer gleichwertigen Stufe mit sich und seinen Mitstreitern. „Der wichtigste Bestandteil meiner Konzerte ist das Überraschungsmoment“, erklärt er uns im „Krone“-Interview, „es muss stets Räume für spontane Improvisation geben. Formen verändern sich, Klängen wandern weiter. Ist das Publikum zu starr, ist es schwer, ein gemeinsames Erlebnis entfachen zu können.“
Collier weist auf seinen Alben opulente Klanglandschaften auf. Die Produktion ist üppig, die Stile gehen querbeet und trotzdem hält ein gefühlt unsichtbares rhythmisches Band die Songs in all ihrer austrabenden Komplexität zusammen. Dass Fans ihn zuweilen gerne als auf die Erde gekommenen Außerirdischen sehen, nimmt er schmunzelnd zur Kenntnis. „Ich liebe die Vorstellung, dass die Musik an einer Vielzahl von unterschiedlichen Plätzen auf dieser Welt existiert. Ich habe nie an Genres geglaubt und spiele am liebsten in Locations, deren Stimmung und Tonlagen sich mitverändern. Meine Songs müssen sich an die jeweilige Bühne anschmiegen können und vice versa.“ Wie kein Zweiter verändert Collier seine Songs live an jedem Abend. Einen Track wie „Hideaway“ etwa spielt er seit rund zehn Jahren, teilweise aber so verändert, wie es sich für gewöhnlich nur Bob Dylan zutraut. „Es gibt eine Bandversion, eine Orchesterversion und eine One-Man-Version. Songs entwickeln sich immer. Meine Aufgabe ist es, das zuzulassen und zu fördern. Das Lied auf einem Album ist nur der erste Schritt. Erst von dort weg wird die Reise richtig spannend.“
Wiederholung unerwünscht
Manche seiner Lieder hat Collier beim Entstehungsprozess bereits genau im Kopf vorbereitet, andere wiederum sind bewusst dafür gemacht, um auf der Bühne in Jamsession-artigen Konzerten völlig umgedreht und durchgewirbelt zu werden. „Ich brauche in der Musik den Überraschungsaspekt. Jede Songwritingsession ist für mich die Suche nach diesem besonderen Gefühl, das ich nie zuvor hatte. Es ist für mich unvorstellbar, einen Song oder ein Konzept zu wiederholen. Wenn ich einmal etwas gemacht habe, dann ist es erledigt - wozu also noch einmal?“ Collier passte mit seinem extraterrestrischen Denken nur schwer in das Konstrukt der Schule und der durchschnittlichen Gesellschaft. „Ich hatte früh das Glück, dass mich meine Mutter so stark auf meinem Weg unterstützt hat. Ich habe die Welt schon als Kind mit ganz anderen Augen gesehen. Seit ich Musik mache, bin ich von dem Gedanken besessen, den perfekten Sound zu finden - wissend, dass das nie passieren wird.“
Collier sieht seine künstlerische Tätigkeit als ein Privileg und ist sich bewusst, dass er sich und seinen Hörern immens viel abverlangt. „Ich befinde mich in einer ständigen Konversation mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen. Die pure, ungefilterte Kunst ist jene, die nicht für andere gemacht ist, aber andere trifft und berührt. Ich lasse mich aber auch gerne von Erwartungen tragen. Meine Fans haben über die Jahre gelernt, dass man bei mir immer mit dem Unerwarteten rechnen muss.“ Der Brite komponiert anfangs gerne mittels einer Art „kontrolliertem Chaos“, das sich von gängigen Strukturen löst, um damit neue, unbetretene Gefilde zu erforschen. „Das Konzept von Regeln und Einordnungen finde ich per se nicht uninteressant, aber es dominiert meine Kunst nicht. Ich fand es immer viel spannender, die Regeln selbst zu machen. Das ist die Magie der Musik - sie zu studieren, aber darin trotzdem die eigene Stimme und Haltung zu finden.“
Privileg der Kunst
Mit dem Erwartungsdruck von außen geht Collier insofern locker um, als er einerseits selbst sein größter Kritiker ist und sich die Latte höher legt, als es irgendjemand anderes tun könnte. „Ich weiß genau, wozu ich imstande bin und was ich leisten kann. In diesen Parametern reize ich das Maximum aus. Ich bin so beschäftigt damit, neue Ufer anzusteuern und mich zu verändern, dass ich gar keine Zeit dafür habe, auf die Erwartungen von außen zu achten.“ Mit dem Ruhm, der mit seinen ausverkauften Konzerten und den Grammys einhergeht, lebt Collier gelassen. „Ich sehe es als großes Privileg, dass mich die Menschen hören und erkennen. Ich treffe nur sehr selten auf schwierige Menschen oder habe unangenehme Situationen. Die meisten kommen auf mich zu, bedanken sich für die Musik und wollen ein Foto - das ist doch wunderschön und ein tolles Kompliment.“
Dass er mit seiner Musik gleichermaßen im Jazzclub, auf großen Festivals und Open-Air-Bühnen wie mit Orchestergraben funktioniert, hat er sich über die wenigen Erfolgsjahre hart erarbeitet. „Mit einem Orchester zu spielen, fühlt sich an, als würde man auf einer riesengroßen weißen Wolke sitzen. Mit der Band ist es so, als brettere man mit einem Truck über den Highway und Solokonzerte erinnern mich an einen gemütlichen Spaziergang. Ich bin froh, dass ich meine musikalische Welt aus so vielen verschiedenen Perspektiven sehen und erleben darf.“ Bleibt nur noch die nicht enden wollende Suche nach Perfektion. „Ich suche aber nicht nach Perfektion, sondern nach dem bestmöglichen Gefühl“, lacht er, „in der Musik geht es nicht um richtig oder falsch, sondern um Authentizität und Ehrlichkeit. Ich versuche alles, so richtig und ausbalanciert wie möglich zu gestalten. Wichtig ist am Ende nur, dass es mir gefällt und locker von der Hand geht.“
Live im Gasometer
Mit seinem neuen Album „Djesse Vol. 4“ und all den großen Hits der letzten Jahre kommt Jacob Collier am 11. November für ein Konzert in den Wiener Gasometer. Unter www.oeticket.com gibt es noch Karten für das genrefluide Musikereignis des derzeit wohl spannendsten Jungstars.
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