Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Eine Frage, die sich unzählige „Krone“-Leser nach dem Gerichtsurteil gegen eine 33-jährige Mutter stellen. Über Monate hatte sie ihren Sohn körperlich und seelisch gequält, ihn in eine Hundebox gesperrt. Nach Bekanntwerden des Falles wurden rasch Vorwürfe hinsichtlich Behördenversagen laut. Eine Untersuchungskommission des Landes Niederösterreich arbeitete den Fall jetzt auf - und kam zu einem ernüchternden Ergebnis.
Ein zwölfjähriger Bub über Monate gefesselt und geknebelt, abgemagert auf 40 Kilo, gedemütigt und eingepfercht in eine Hundebox. Von seiner eigenen Mutter fast zu Tode gequält. Rund eineinhalb Jahre nach Bekanntwerden der Schreckenstat einer 33-jährigen Niederösterreicherin und ihrer einst besten Freundin im Waldviertel wurden vor wenigen Tagen die Urteile gegen die beiden Frauen am Landesgericht Krems gesprochen. Die Kindesmutter fasste 20 Jahre Haft aus, die Zweitangeklagte 14 Jahre.
Einschätzung von Jugendamt wirft Fragen auf
Eine Sozialarbeiterin hatte in letzter Sekunde Alarm geschlagen und dem zwölfjährigen Buben damit das Leben gerettet. Aber nicht nur die Zeugenbefragung einer Mitarbeiterin der Kinder- und Jugendhilfe während des Prozesses warf Fragen auf. Obwohl eine Lehrerin am 25. Oktober 2022 (insgesamt fünfmal rief sie beim Amt an) eine Gefährdung des Buben meldete, kam es erst drei Tage später zu einer Kontrolle.
Obwohl der Zwölfjährige verbundene Arme hatte und nur einsilbig antwortete, habe es kein Vieraugengespräch mit dem Kind gegeben. Die Sozialarbeiter seien vielmehr von einer psychischen Beeinträchtigung des Buben ausgegangen. Auch bei einem weiteren Hausbesuch am 18. November 2022 sah der Sozialarbeiter „keine Gefahr im Verzug“. Dass monatelang nichts gegen das unfassbare Martyrium des Buben unternommen wurde, lässt viele sprachlos zurück.
Kommission präsentiert Ergebnisse
Seitens des Landes tagte nun eine Kommission, um mögliche Verfehlungen seitens der Behörden auszuloten. Seit Sommer vorigen Jahres wurden die Handlungen und Aussagen von Institutionen zu dem Fall durch eine Expertengruppe geprüft. Die unabhängige „Kinderschutz“-Kommission nahm Schnittstellen, Prozesse und Rechtsvorschriften unter die Lupe.
Vorsitzende der Expertengruppe war die NÖ Kinder- und Jugendanwältin Gabriela Peterschofsky-Orange. Weitere Mitglieder waren Hedwig Wölfl, Geschäftsführerin der Kinderschutzorganisation „möwe“, Kinder- und Jugendpsychiater Paulus Hochgatterer sowie insgesamt drei Mitarbeiter von Kinder- und Jugendhilfe, Bildungsdirektion und von der Landesgesundheitsagentur.
Peterschofsky-Orange räumte am Dienstag ein, dass der Anlassfall „zutiefst betroffen“ mache. Generell sei vor allem „der gelebte Kinderschutz“ wichtig, Kinderrechte sollten Baustein und Grund bilden. Außerdem brauche es „Sensibilisierung auf den Vorrang des Kinderschutzes“.
Wir können mit dem, was wir erarbeitet haben, einen Anstoß geben. Aber mehr kann es nicht sein, auch der Zeitspanne geschuldet.
Gabriela Peterschofsky-Orange
Als unüberwindbare Hürde für ein systemübergreifendes Handeln und Aufarbeiten habe sich dabei der Datenschutz „quergelegt“. Denn trotz der Dringlichkeit und dramatischen Tragweite des Falles war es den Experten lediglich möglich, auf öffentlich zugängliche Informationen zuzugreifen. Somit blieben die Untersuchungen in rein hypothetischen Gefilden stecken - das Ziel oder der Wunsch nach einem effizienteren sowie effektiveren Kinderschutz damit gänzlich „fallunabhängig und unbewertet“.
Rechtliche Konsequenzen nicht ausgeschlossen
Am Dienstag wurden die Mitglieder der Landesregierung von Landesrätin Ulrike Königsberger-Ludwig über die Ergebnisse informiert. Etwaige Widersprüche zwischen den neuen Informationen aus dem Gerichtsverfahren und der internen Aktenlage würden geprüft werden. Ein Amtshilfeersuchen an das Gericht zwecks Übermittlung des Protokolls sei bereits beantragt.
Weitere rechtliche Konsequenzen können deshalb nicht ausgeschlossen werden.
Ulrike Königsberger-Ludwig, SPÖ-Landesrätin
Bild: P. Huber
Dringlichste Maßnahme: Datenschutz und berufsrechtliche Verschwiegenheitsverpflichtungen dürfen niemals den Wissensaustausch in Sachen Kinderschutz blockieren. Hier müssen vorhandene Rechtsvorschriften überprüft werden. Weiters sei ein regelmäßiger Austausch aller „Systeme“ unverzichtbar–also eine systemübergreifende Abstimmung aller Institutionen sowie eine verpflichtende Dokumentation.
Öffentlichkeit hat Recht auf Information
Die Kommission hielt auch eindeutig fest, dass die Öffentlichkeit ein Recht auf Information über das generelle Handeln öffentlicher Institutionen habe. Die Wahrung der Persönlichkeitsrechte (Datenschutz) vorausgesetzt, stehe eine Transparenz über handelnde Institutionen nicht im Widerspruch mit dem Schutz des Kindes.
Als erste Konsequenz soll eine NÖ Kinderschutzkommission eingerichtet werden. Als nächster Schritt sollen Gespräche auf Bundesebene geführt werden, um die Empfehlungen umzusetzen. Im Hinblick auf den gequälten Buben im Waldviertel ein vages und wohl unbefriedigendes Ergebnis. Opferanwalt Timo Ruisinger strebt, wie berichtet, indes eine Amtshaftungsklage gegen das Land, da die Bezirkshauptmannschaft früher eingreifen hätte müssen.
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