Die Grazerin Barbara Stelzl-Marz zählt zu den wichtigsten und angesehensten Historikern Österreichs. Wie kam sie zur Geschichte? Was gibt es über die NS-Zeit noch Neues zu lernen? Und wie analysiert sie die Rückkehr des Kommunismus? Die „Steirerkrone“ hat sie zum großen Interview gebeten.
KRONE: Frau Stelzl-Marx, wann ist die Geschichte erstmals in Ihr Leben getreten?
Barbara Stelzl-Marx: Es gibt einen Moment, der da sehr prägend war: Ich hatte gerade angefangen, Englisch und Russisch zu studieren und war im August 1991 in Moskau und Leningrad, als der Putsch gegen Gorbatschow begann und in Folge die Sowjetunion zerbrach. Und da habe ich gewusst, da erlebe ich etwas, das in die Geschichtsbücher eingehen wird.
Mittlerweile schreiben Sie die Geschichtsbücher selbst, wie kam es dazu?
Es war eine Verkettung glücklicher Zufälle. Als ich aus Russland zurückkam, habe ich Professor Karner an der Uni Graz kennengelernt, der ganz frisch Einblick in die Moskauer Archive bekommen hatte. Und weil ich Russisch sprach und daher die Lager- und Personalakten lesen konnte, begann ich mitzuarbeiten und Geschichte zu studieren. Als 1994 das Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung gegründet wurde, war ich von Anfang an dabei und habe zuerst zu österreichischen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion und später zu amerikanischen Kriegsgefangenen in der damaligen „Ostmark“ geforscht. Damit ist das Interesse am Zweiten Weltkrieg und an totalitären Systemen gestiegen.
Anfang der 1990er lag ja noch vieles von der NS-Zeit im Dunkeln. Heute gibt es Dokus und Bücher en masse. Gibt es da wirklich noch etwas Neues zu erforschen?
Natürlich ist zu dem Thema schon viel geforscht worden, aber es gibt noch sehr viele Lücken. Ein Beispiel: Wir haben aktuell ein Projekt von der Bundesimmobiliengesellschaft bekommen, zu untersuchen, welche Gebäude in deren Besitz NS-belastet sind. Unter anderem gehört die Polizeistation am Grazer Paulustor dazu. Und wie viele Menschen wissen wirklich, dass dort einst die Grazer Gestapo-Zentrale war? Derzeit weist nur eine kleine Infotafel darauf hin.
Wie sehr ist Ihre Aufgabe auch, diese Dinge nicht nur zu erforschen, sondern unter die Menschen zu bringen?
Die Vermittlung unserer Forschung ist eine der Kernaufgaben. Denn nur weil man viele Spuren dieser dunklen Zeit nicht mehr sieht, heißt ja nicht, dass sie nicht vorhanden sind. Unsere Aufgabe als Historiker ist es nicht nur, diese Spuren zu finden und zu erforschen, sondern sie auch sichtbar zu machen – mit Büchern, Ausstellungen oder Konferenzen.
Immer mehr Menschen stellen heute aber die Frage: Was hat das mit mir zu tun? Können Sie das verstehen?
Es gibt das Problem, dass immer weniger Zeitzeugen zur Verfügung stehen und damit auch die Unmittelbarkeit des Themas abnimmt. Gleichzeitig ist mein Eindruck aber schon, dass durch die neuen Herausforderungen, mit denen wir uns konfrontiert sehen – Ukrainekrieg, zunehmender Antisemitismus, etc. – vielen Menschen bewusst wird, wie wichtig es ist, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, um die Gegenwart zu verstehen. Und ich habe das Gefühl: Wer historisch gut gewappnet ist, der neigt auch dazu, sensibler auf die Zeichen der Zeit zu schauen.
Aber ist genau dieses Bewusstsein noch in ausreichendem Maß vorhanden?
Das ist eine schwierige Frage. Wenn man sieht, wie stark antisemitische Vorfälle aktuell wieder ansteigen, dann kann man nur sagen, dass es im Moment keine ideale Entwicklung nimmt. Mit Aufklärung gegenzusteuern, halte ich für sehr wichtig.
Aktuell feiert mit dem Kommunismus noch ein Phänomen, das man längst vergessen geglaubt hat, ein Comeback. Wie beurteilen Sie das aus historischer Sicht?
Sowohl die KPÖ in Graz als auch in Salzburg hat vor allem mit sozialen Aspekten gepunktet und viele Wähler haben nicht den Kommunismus per se, sondern das Paket der Sozialleistungen und vielleicht auch einen gewissen sozialen Chic gewählt. Wenn man sich aber die Parteiprogramme anschaut, sieht man, dass das nicht zu verharmlosen ist. Ich habe 1991 die Sowjetunion ja noch miterlebt und ich kann mich erinnern, wie verzweifelt viele Menschen aus diesem kommunistischen System hinaus wollten. Vor diesem historischen Hintergrund macht es eigentlich perplex, welche Wahlergebnisse wir da in Graz und Salzburg erlebt haben.
Die Ränder werden immer stärker – diese Situation hatten wir nach 1918 schon einmal? Sehen Sie da Parallelen?
Ja und was damals eine große Rolle gespielt hat, war die Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosigkeit wurde immer größer, die Menschen hatten immer weniger Geld. Und wenn die Situation so ist, dann greifen die Menschen nach jedem Strohhalm, der sie aus dieser persönlichen Not womöglich herausholt. Das heißt, eine wirtschaftliche Krise kann zu einer politischen Krise und zu einem Auseinanderdriften der Gesellschaft führen. Deswegen ist eine breit aufgestellte Mittelschicht etwas ganz Wesentliches.
Wenn Sie als Historikerin auf die Gegenwart schauen, was sehen sie?
Mich interessiert ja immer, wie sich die „große Geschichte“ auf das Leben von „kleinen Menschen“ auswirkt. Und wenn ich etwa an ein Projekt denke, das wir aktuell an der Uni Graz machen, bei dem wir ukrainische Flüchtlinge interviewen und ihre Geschichten aufzeichnen, dann sehe ich, dass wir noch vieles aus der Geschichte zu lernen haben.
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