Frech, goschert und pünktlich – diese drei Eigenschaften sieht der Wiener Jazz-Saxofonist Harry Sokal mitunter als entscheidend für seine einzigartige Karriere. Heute feiert er im Porgy & Bess seinen 70er. Wir haben ihn in seinem Zuhause nördlich von Wien besucht, um sein spannendes Leben noch einmal aufzurollen.
Beschaulich steht das Haus am Anfang einer ruhigen Gasse im kleinen Ort Breitstetten im niederösterreichischen Bezirk Gänserndorf. 1989 erfüllte sich Harry Sokal nach einigen turbulenten Jahren in Wien dort den Traum seines eigenen Ateliers und Studios. Vorbei sind die Tage der Lärmbelästigungen, die ihn lange begleiteten. „Ich habe halt andauernd geübt“, erinnert er sich im „Krone“-Interview zurück, „wegen der Ruhestörung habe ich oft schon um 7 Uhr früh begonnen, aber irgendwer hat sich immer aufgeregt. In meiner ersten Wohnung in der Hernalser Rokitanskygasse klebte sogar einmal eine Morddrohung an der Tür. Hier am Land gibt es diese Probleme nicht mehr.“ Sokal ist mit Leib und Seele Saxofonist und schrieb mit seiner Profession nationale Musikgeschichte. Das Gros seiner Fans kennt ihn aus dem Jazz. Sokal scheute sich als harter Arbeiter aber nie davor, Projekte in anderen Genres zu starten. Wichtig war ihm nur immer die Freiheit. „Beim Theater an der Wien hätte ich fix anfangen können, aber das hätte mich zu sehr limitiert.“
Netzwerken und Straßenmusik
Heute wird Sokal von Journalisten gerne unter die „Top-10 der besten Post-Coltrane-Saxofonisten Europas“ gekürt, ganz am Anfang konnte er aber so gut wie nichts. „Ich habe in der Familienband begonnen, Blockflöte zu spielen und hatte auch Klavierunterricht. Mit neun bekam ich das erste Mal eine Klarinette in die Hand und von dort ist der Weg zum Saxofon nicht mehr weit.“ Den Wunsch nach Ausbruch verspürte Sokal früh. Schon mit 13 büxte er das erste Mal daheim aus, zwei Jahre späte fegte er vor dem Wiener Kult-Club Camera den Dreck weg und kam in Kontakt mit Harri Stojka. Für dessen damalige Band Gypsy Love fungiert Sokal fortan als Wurstsemmelholer. Nebenbei vernetzt er sich mit Branchengrößen wie Karl Ratzer oder „Supermax“ Kurt Hauenstein. Auf der Mariahilfer Straße spielt er vor vorbeihuschenden Passanten. „Mit dem bisschen Geld habe ich mir beim Imbissstand eine Jause gekauft.“
Die harte Schule der Straßenmusik eicht Sokal. Er gründet seine ersten Kooperationen und schockiert seine Mutter. Nach dem frühen Tod des Vaters erbt er rund 20.000 Schilling und stellt sie vor vollendete Tatsachen. „Ich habe ihr gesagt, dass ich nach New York gehe und nie wieder zurückkomme“, lacht Sokal heute. Ein halbes Jahr verdingt er sich mit Restaurierungsdiensten und Entrümpelungen. Er schläft für rund zwei Dollar pro Nacht in einem winzigen Zimmer. Der „Big Apple“ sollte aber doch zu groß für ihn sein. Kurz darauf geht es nach London, wo Sokal nach zwei Wochen die Reißleine zieht. „Ich hatte überhaupt keine Chance, in der dortigen Szene Fuß zu fassen.“ Das große Ziel, der weltbeste Saxofonist zu werden, treibt den Wiener aber stets an. Jahre später, als er an der Linzer Bruckner-Universität Saxofon und Improvisation lehrt, wird er seinen Schülern eintrichtern, dass sie zehn Jahre lang zehn Stunden pro Tag üben müssten – dann wäre man halbwegs bei den Guten dabei.
Auf 600 Tonträgern verewigt
Mit diesem Ehrgeiz erarbeitet sich Sokal ab den 70er-Jahren eine vielseitige und nicht in eine Schublade einzuordnende Karriere. Er wurde schon in den Anfängen Mitglied des Vienna Art Orchestra, arbeitet mit internationalen Größen wie Art Blakey, Dave Holland, Wynton Marsalis oder Joe Zawinul und kreiert von Depart über Groove bis Roots Ahead unterschiedlichste Projekte, mit denen er sich seinen Lebensunterhalt verdient. Mit dem legendären Art Farmer spielte Sokal ein Vierteljahrhundert lang. Nach seinem Ableben gründete er das beliebte Hommage-Projekt „I Remember Art“. Nebenbei war sich der leidenschaftliche Improvisationskünstler auch nicht zu schade, um den Austropop mitzuformen. Man hört Sokal bei der Hallucination Company, bei Wolfgang Ambros oder auf Falcos Kultalbum „Einzelhaft“. „Ich war frech, goschert und vor allem pünktlich“, resümiert Sokal, warum er meist der erste war, wenn Pop-Stars Saxofon-Spuren benötigten, „ich bin insgesamt auf rund 600 Tonträgern verewigt. Ich bin da, wenn ich da sein muss, mache meine Arbeit und bin weg. Leidenschaftlich und effizient.“
Berührungsängste sind Sokal genauso fremd wie Ausruhphasen. „Ich bin ein stilistisches Chamäleon, das hat mir immer gefallen. Ich liebe es zu üben, zu improvisieren und zu spielen. Für mich ist die Musik keine Arbeit.“ In seinem Breitstettener Studio hat er u.a. ein Schlagzeugset des großen Idris Muhammad oder massive ORF-Boxen, die für ein besonderes Klangerlebnis sorgen. Die technische Seite fasziniert Sokal genauso wie die musikalische. „Ich bin ein alter Bastler und mache aus allem etwas“, erzählt er, während er seine kleine, aber ungemein üppig bestückte Werkstatt zeigt, „alte Verstärker, Mikrofone oder auch elektronisches. Ich liebe es, Dinge wieder zum Laufen zu bringen oder sie verändern zu können.“ Die Holzvertäfelung hat Sokal 1989 selbst angebracht – zum Kostenpunkt von rund 70.000 Schilling. „Ein Architekt hat sich das Haus angesehen und meinte, ich bräuchte eine Million für die Planung und noch eine Million für den Ausbau. Von wegen.“
Menschen glücklich machen
Nur bei der Motorik muss der umtriebige Leidenschaftsmusiker aufpassen. Die Kreuzbänder sind weg und beim letzten Stiegensturz rissen drei weitere Bänder, was Operationen zur Folge hatte. Mittlerweile ziert ein Geländer die Stiege und Sokal geht entspannt mit seiner eingeschränkten Mobilität um. „Laufen kann nicht ich nicht mehr, durch die fehlenden Kreuzbänder schwimmen die Knie schnell. Wenn ich in einen Zug einsteige, muss ich gut aufpassen. Ich bin aber so oft wie möglich im Fitnesscenter, um mich in Schuss zu halten. Ein bisschen vernünftiger essen sollte ich, aber die heimische Küche ist halt so gut.“ So offen wie in der gespielten Musik ist Sokal auch im Rundherum. Von jüngeren Künstlern oder ehemaligen Studierenden lernt er gerne dazu, das Zusammenspiel in seinem Studio schätzt er. „Am Schönsten ist es aber, wenn ich so viele Menschen wie möglich nach Konzerten mit erfüllten Herzen heimschicken kann.“
Geburtstag im Porgy & Bess
Heute Abend, am 18. März zu seinem 70. Geburtstag, spielt Sokal als ein Drittel der Free Tenors mit Bernhard Wiesinger und Ondrej Štverácek im Porgy & Bess. Man darf sich nicht nur auf höchste Improvisationskunst, sondern auch auf einen bestens gelaunten Jubilar freuen, der sich gerne die eine oder andere Anekdote aus seiner bewegenden Karriere teilt. Unter www.porgy.at gibt es noch Tickets und weitere Informationen zum Konzert. Höchstwahrscheinlich gibt es auch noch Karten an der Abendkasse.
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