Eine Frau versucht sich im 19. Jahrhundert aus den Fängen der Psychiatrie zu befreien: Der Vorarlberger Autor Markus Gasser hat mit „Lil“ einen spannenden historischen Pageturner vorgelegt – und die Geschichte einer weiblichen Selbstbehauptung. Im Interview spricht er darüber, was es heißt, ein Mann oder eine Frau zu sein und ob das überhaupt die richtige Frage ist.
„Krone“: Ihr Roman „Lil“ handelt von einer Frau, die Ende des 19. Jahrhunderts in die Fänge eines Psychiaters und damit in eine Irrenanstalt gerät. Der Wahnsinn war damals noch eine große Unbekannte, allerdings hatte man schon sehr konkrete Behandlungsmethoden parat. Wie muss man sich das vorstellen?
Markus Gasser: Damals war die Psychiatrie noch eine Mischung aus unausgegorenen Einsichten, Esoterischem, Theosophie, Fernöstlichem und viel, viel Spekulation … Schließlich hat sich die gegenwärtige Psychiatrie daraus formiert, natürlich in vielen, oft vernünftigen Entwicklungsschritten. Der wichtigste Mann in jenen Jahren war Richard von Krafft-Ebing mit seinen Standardwerken zu psychischen Erkrankungen. Bis zum heutigen Tag finden sich seine Definitionen wortwörtlich in den aktuellen Klassifikationssystemen. Er hat u.a. die „anhaltende Trauerstörung“ definiert. Und die wird Lil Cutting ja auch diagnostiziert: Mehr als sechs Monate Trauer gestand Krafft-Ebing niemanden zu – pietätlos. Wer darüber hinausging, wich von der Norm ab. Die Norm aber wurde willkürlich festgelegt. So galt man schnell als psychisch lädiert.
Ihr Buch ist streckenweise beklemmend. Weil es so schrecklich einfach war, Frauen wie Lil wegzusperren.
Die Psychiatrie der damaligen Zeit arbeitete wie auch heute noch – das geben Psychiater selber offen zu − mit Zirkelschlüssen. Wer an einer anhaltenden Trauerstörung und an damit einhergehenden Depressionen litt und sich der Behandlung verweigerte, sich also nicht unterwarf wie Lil, hatte gleich eine „oppositionelle Trotzstörung“. Das wieder vertiefte laut Diagnose Depression und Trauerstörung – und damit befindet man sich in einem Teufelskreis, da kommt man kaum mehr raus. Mein Buch ist aber keines gegen die Psychiatrie, sondern gegen ihren Missbrauch. Und es gibt nun mal diesen Unterschied zwischen einem Kardiologen, der messen kann, was mit Ihrem Herzen los ist, und der Psychiatrie, die bis heute im Zwielicht rumtappt. Mir selbst wurde einmal wegen Kopfschmerzen ein psychisches Problem angedichtet – mit der Verschreibung entsprechender Psychopharmaka. Wie sich dann herausstellte eine Fehldiagnose, in Wirklichkeit war es ein Cluster-Kopfschmerz.
Das Buch kreist auch darum, dass Eigenheiten schnell auf Symptomlisten landen können. Man könnte fragen: Wo führt das hin, soll der originelle Mensch aussterben?
Freiheit ist, wie der Rechtsgelehrte Hans Kelsen schon gesagt hat, der Ur-Drang der Menschen. Wird der Eigensinn pathologisiert, haben wir ein Problem. Zudem psychiatriert sich heute fast jeder schon selbst. Sogar das Hinausschieben von Arbeit, „Prokrastination“, gilt mittlerweile als pathologische Störung. Auch beim Wort „depressiv“ sollte man vorsichtig sein, der Begriff ist zur Modeerscheinung verkümmert.
Vielleicht liegt das an der um sich greifenden Optimierungslust?
Ich würde von Selbstoptimierungswahn sprechen, klar ein Phänomen der heutigen Zeit. Pausenlos wollen wir besser werden, uns korrigieren und ja nicht älter werden – obwohl wir das überhaupt nicht verhindern können. In Don DeLillos Roman „Null K“ werden die Menschen eingefroren, um dem Tod zu entgehen – eine Art Superhölle.
Es gibt Leser und Leserinnen, die sich in Bonnie Garmus „Eine Frage der Chemie“ an einem Hund gestört haben, der mit sich selber redet. In „Lil“ tritt „Miss Brontë“ auf – eine Hündin, die sogar mit der Erzählerin Sarah Cutting spricht.
Es geht bei mir nicht darum, dass „Miss Brontë“ spricht, sondern ob sie tatsächlich mit der Erzählerin Sarah redet – und wenn ja, warum? Bildet sich Sarah das nur ein, ja oder nein? In jedem Fall will Sarah eine geweitete Welt, in der auch Tiere sprechen können. Wer sich an einer sprechenden Hündin stört, hat daneben gelesen. Nabokov sagte einmal: „Es gibt ganz bestimmt schlechte Schriftsteller, aber schlechte Leser gibt es leider auch.“
Nun ist es schon in der Bibel anrüchig, mit Geld zu arbeiten. Aber wenn das eine Frau macht, dann ist es natürlich eine Katastrophe!
Markus Gasser
Frauen, die nicht harmlos und angepasst waren, lebten damals in ständiger Gefahr, als „Mannweiber“ abgestempelt zu werden. Man sagte, sie würden die Demütigung durch den Mann geradezu provozieren. So wird es zumindest in Ihrem Roman formuliert.
Ja, das kommt direkt aus Krafft-Ebings Schriften. Dass die Gewalt, die Männer gegen Frauen ausüben, durch die naturgegebene Starrköpfigkeit der Frau provoziert werde. Das muss man sich mal vorstellen! Und das konnte einfach so behauptet werden, die Psychiatrie musste ja nichts beweisen. Es gab damals einen angesehenen Psychiater in den USA. Seine beliebteste Methode war das Ziehen sämtlicher Zähne – bei der Diagnose weiblicher Schwermut. Auch die Entfernung von Gebärmutter und Klitoris war üblich – gegen Masturbation. Aber selbst das „Krankheitsbild Homosexualität“ ist erst 1991 aus der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) gestrichen worden. In meinem Roman wird der Psychiater aber zur Rechenschaft gezogen, es widerfährt ihm, was er zuvor vielen Frauen angetan hat …
Haben Sie nie die Befürchtung gehabt, dass Sie im Zuge der Diskussionen über kulturelle Aneignung dafür kritisiert werden könnten, als Mann eine Frauenfigur erschaffen zu haben?
Also eine Art Gender Appropriation? Dafür gibt es doch eine Tradition: Viele männliche Autoren schreiben aus der Perspektive von Frauen, von J.M. Coetzee bis Kazuo Ishiguro. Zudem mache ich nicht den Fehler wie Tolstoi in „Anna Karenina“: die Frau ins Verderben laufen zu lassen. Ich erzähle die Geschichte einer Selbstbehauptung. Es gibt heute auch genug Aufrufe gerade von Autorinnen, die dafür eintreten, dass anspruchsvolle Literatur grundsätzlich alles darf. Sollte man hier mit Cancel Culture anfangen, wird Literatur stromlinienförmig, langweilig, Ideologie. Und in meinem Roman geht es doch gerade darum, was ein Mann ist und was eine Frau – und darum, ob das vielleicht die völlig falsche Frage ist. Wir sind alle immer viel mehr, als man auf den ersten Blick glaubt.
Mit Lil Cutting haben Sie eine Frauenfigur erschaffen, die sich nicht von unten nach oben kämpfen muss – weil sie schon oben angelangt ist.
Ich habe mir überlegt, was es bedeuten würde, wenn Lil keine typische Frau von damals wäre, sondern eine Großunternehmerin, also eine „Kapitalistin“? Ich habe gegen den antikapitalistischen Affekt, der oftmals auch noch antisemitisch durchsetzt ist, angeschrieben. Es gab auch damals schon erfolgreiche Frauen, nur erinnert sich heute kaum mehr jemand an sie: Hetty Green etwa, die als „die Hexe der Wall Street“ angefeindet war. Dabei war sie das Orakel der Wall Street, sie hat Warren Buffetts Investitionstechniken vorweggenommen. Nun ist es schon in der Bibel anrüchig, mit Geld zu arbeiten. Aber wenn das eine Frau macht, dann ist es natürlich eine Katastrophe!
Sie betonen immer wieder den Begriff der Freiheit. Was kann man von „Lil the Kill“ lernen?
Gegen jegliche Norm, die die Mode der Zeit vorschreibt, anzugehen, wenn man etwas anderes tun möchte. Den anarchischen Eigensinn, die Liebe zur Arbeit. Eine Leserin fragte mich, warum ich mich als Mann in dieses feministische Thema verbeiße. Ganz einfach: Weil mich meine Mutter im Geiste Simone de Beauvoirs erzogen hat. Ihre Grundsätze sind mir geblieben. Freiheit ist das Grundsätzlichste überhaupt. Ich denke, es ließe sich eine Ethik auf einem einzigen Satz aufbauen: Niemand will eingesperrt und gefoltert werden.
Einerseits wird zwar immer behauptet, dass Bücher bald ein Relikt vergangener Tage sein werden, andererseits boomen Online-Leserunden mit Autoren – und die Zahl der veröffentlichten Bücher ist auch nicht eben gering. Auch Ihr YouTube-Kanal „Literatur Ist Alles“ reißt Tausende mit. Sind wir also doch nicht so lesefaul, wie es oft heißt?
Begeisterung erzeugt Begeisterung. Der Kanal war bewusst gegen die sogenannten Gatekeeper gerichtet, die dir sagen, was du zu lesen hast und was nicht. Ich teile die Welt der Bücher ein in solche, für die ich noch zu unreif bin, um sie zu lieben, und solche, die ich jetzt schon liebe. Es gibt keine schlechten Bücher. Ich habe noch aus jedem Buch etwas gelernt.
Sie prophezeien dem Medium Buch also eine glückliche und vor allem lange Zukunft?
Ich bin aufgewachsen in einer Zeit, da der Roman für tot erklärt wurde. Dann kamen plötzlich Süskinds „Parfum“ und Kehlmanns „Vermessung“ – wow! Endlich tat sich wieder was in der deutschen Literatur. Um die Jahrtausendwende hieß es, das Hörbuch löse das Buch ab. Doch der Aufzug hat die Treppe auch nicht abgelöst. Ich bin generell gegen das ewige Untergangsgerede. Wer immerzu Krisen und Katastrophen heraufbeschwört, der will und hat sie denn auch. Aber was mir fehlt, ist eine kraftvolle konstruktive Orientierung durch Kritiker wie Reich-Ranicki, obwohl ich als Romanautor auf seine gelegentliche Negativität verzichten könnte …
Sind Sie nach dem Roman derzeit in der Ausspannphase?
Nein, in der Anspannphase: Diskussionen mit Leserinnen und Lesern in digitalen Leserunden wie „Whatchareadin“ und „LovelyBooks“, Auftritte in Dornbirn, München, Berlin, ständig unterwegs. Jetzt tritt man aus diesem Autorsein heraus, wo man am Schreibtisch hockt, jetzt muss man ausbaden, was man angerichtet hat.
Noch einmal zurück zum Hund: Gab es ein lebendes Vorbild für „Miss Brontë“?
Ja, meinen Schäferhund „Gandhi“. Ich denke oft: Wenn er doch nur einen Tag lang sprechen könnte! Wenn ich ihn nur einmal fragen könnte: „Wie kann ich dein Leben schöner machen?“ Wenn er nur einmal nicht nur mit Pfoten und Zähnen kommunizieren müsste. Einfach mal ein paar Sätze sagen – ein einfacher, schöner, fantastischer Gedanke. Die Welt belebt sich durch so etwas. Und „Gandhis“ Abbild „Miss Brontë“ bringt auch Humor in den Roman. Mit Humor kann man ja alles Mögliche bewältigen, auch das Schrecklichste – bis zur Kastration wie am Ende von „Lil“.
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