Skandal oder genial, oder beides? Bei kaum einer Band liegt der Grad zwischen kreativer Einzigartigkeit und humaner Fragwürdigkeit so schmal beinander wie bei den Südafrikanern Die Antwoord. Nach Jahren voller Vorwürfe von außen versuchen es Ninja und Yolandi jetzt wieder mit Musik – und begeisterten damit im Wiener Gasometer.
Wo die moderne Erregungsgesellschaft ihre Grenzen zieht und wo nicht, wirkt in vielerlei Hinsicht willkürlich. Als Rammstein letzten Sommer zwei randvoll ausverkaufte Happel-Stadion-Konzerte spielten, formierten sich mehrere Gruppierungen, um lautstark gegen Till Lindemann zu protestieren – die Shows gingen trotzdem über die Bühne. Weniger Glück hatten die US-Metalhelden Pantera, deren bereits ausverkaufte Show im Gasometer kurzerhand abgesagt wurde, weil die Wiener Grünen via Campino vom Hitlergruß Phil Anselmos 2016 Wind bekamen, für den er sich immerhin mehrmals öffentlich entschuldigte. Als er mit seiner Band, den Illegals, ein paar Jahre davor im Metalclub Viper Room spielte, war freilich allen alles egal – oder es blieb unbemerkt. Marilyn Manson, dem von mehreren Frauen vorgeworfen wurde, sie missbraucht und genötigt zu haben, startet in den USA bald wieder eine Tour mit Five Finger Death Punch.
Dicker Katalog an Vorwürfen
Und dann hätten wir noch Die Antwoord. Das südafrikanische „Zef“-Duo, bestehend aus Ninja und Yolandi Visser, die mit ihrer Mischung aus Rave, Rap, Punk und offen zur Schau gestellter Anarchie die Popkultur der 2010er-Jahre prägten und für einige Zeit lang zu den Darlings der kalifornischen Künstlerszene galten. Über zehn Jahre lang häuften sich diverse Anschuldigungen. Sexueller Missbrauch, Sexhandel, wiederkehrende Homophobie, Teufelseintreibung und inzestuöse Gedanken wurden dem Duo vorgeworfen. Gabriel „Tokkie“ du Preez, eines der Pflegekinder der einst miteinander liierten Musiker Ninja und Yolandi, gab 2022 in einem dreiviertelstündigen Interview schockierende Einblicke in sein Leben, die schwersten sexuellen, körperlichen und psychischen Missbrauch vorwarfen. Details findet man überall im Internet und Die Antwoord waren gecancelt.
Ninja und Yolandi stritten stets sämtliche Vorwürfe ab, zu einer gerichtlichen Verurteilung kam es nie. Wie auch beim Thema Rammstein bleibt somit die Frage, wie weit man moralisch abscheuliches Verhalten canceln darf oder sollte. Die Antwoord gingen auf Tauchstation (die Pandemie kam ihnen dabei durchaus zugute) und stießen vor einiger Zeit wie Phönix aus der Asche zurück an die Spitze. Ihre aktuell laufende „Reanimated“-Tour sorgt für volle Hallen, auch das Österreich-Comeback im Wiener Gasometer war bis auf den letzten Platz gefüllt. Demonstranten oder Polit-Kritik waren weder vorab noch während des Konzerts auszumachen. In der zu Jahresbeginn veröffentlichten Dokumentation „Zef – The Story Of Die Antwoord“ ließen Ninja und Yolandi ihre Geschichte (recht ereignislos) von ihrer gemeinsamen Tochter erzählen, das neue Studioalbum „Uit De Hemel Gevallen“ steckt bereits in den Startlöchern. Soweit der aktuelle Stand.
Zwischen Aliens und Ameisen
Den vielen Fans scheinen die nicht bestätigten Vorwürfe ohnehin egal zu sein. Rund 3400 fanden sich Mittwochabend im Gasometer ein und erlebten ein Klangbeben der Sonderklasse. Eingeleitet wurde der Gig mit einer unglaublich druckvollen Mischung aus Techno-Beats und der klassischen „Carmina Burana“, bevor Ninja komplett in Weiß gekleidet die Bühne betrat und mit einem schlichten „Yeah“ für frenetischen Jubel sorgte. Ihm zur Seite Yolandi Visser, die sich auch mit 40+ die Piepsstimme der frühen Tage erhalten konnte. Das Bühnensetting wirkte einem Fiebertraum entsprungen und erinnerte am ehesten an Alien-Ameisen in industriell-futuristischer Optik. Bei Die Antwoord waren die visuellen Aspekte und Schockeffekte schon immer gleichbedeutend mit der Musik, auch wenn man die wildesten Jahre langsam hinter sich gebracht hat.
Ninjas Pulli fiel schon nach dem dritten Song, so konnte der Bandleader stolz beweisen, dass man auch kurz vor dem 50. Geburtstag nach mit dem stählernen Körper eines Mittdreißigers brillieren kann. All der Skandale und Gerüchte zum Trotz sind beide überzeugte Buddhisten und leben seit geraumer Zeit streng vegetarisch – das führte sie am Vortag auch in ein Wiener Lokal im dritten Gemeindebezirk, das die gute Werbung mit einem Gemeinschaftsfoto auf den sozialen Medien teilte. Auf die angesprochenen Vorwürfe ging Ninja partiell schon im ersten Set-Drittel ein. In einer Art Freestyle-Rap dementierte er die Homophobie-Vorwürfe, weil DJ Hi-Tek, das dritte Bandmitglied, offen schwul wäre, legte in der langjährigen gegenseitigen Fehde noch einen Diss gegen Eminem drauf und warnte seine Fans vor den „Fake News“, die überall zugänglich wären. Wo die Wahrheit wirklich liegt, das wissen ohnehin nur die Beteiligten. Musikalisch haben Die Antwoord jedenfalls nichts vom Druck der alten Tage verlernt.
Zwischen Metalkutte und Klangschale
Die kultigen Hits ihrer kurzen, aber umso intensiveren Karriere spulten sie im Schnelldurchlauf ab. „Fatty Boom Boom“, „Ugly Boy“ oder „Rich Bitch“, bei dem sich Yolandi in eine goldene Glitzerjacke wickelte, wurden von den Fans textsicher und lautstark mitgesungen. Das Publikum erwies sich als interessante Mischung aus Heavy-Metal-Liebhabern, Klangschalen-Esoterikern und 2000er-Jahre-Ravern, die auch im gesetzteren Alter noch nicht an die abendliche Couch denken. Während der Songs ging Ninja gewohnt intensiv auf Tuchfühlung mit den Fans, ließ sich zeitweise sogar durch das Publikum tragen und intonierte einen Song vom FOH im hinteren Bereich der Halle. DJ Hi-Tek, wie gewohnt mit einer verzerrten Gesichtsmaske, legte mit seinen memorablen Beats und einer beherrschten Turntable-Kunst das Fundament für die abgefeierten Tracks.
Dass Die Antwoord im Prinzip noch immer mit derselben Setlist wie vor sechs oder sieben Jahren touren, störte in Wien niemanden. Zwischen Rap mit Afrikaans-Akzent, wilden Rave-Einlagen und offen zur Schau gestelltem Nihilismus wirbelten die beiden schrägen Frontleute agil über die Bühne. Zwischendurch ließ man den „Pitbull Terrier“ vom Stapel, wehrte sich mit der ständig wiederholten Songzeile „Fuck Your Rules“ in „Happy Go Sucky Fucky“ gegen Bevormundung und Zensur und baute auf der Zielgeraden noch „I Fink U Freeky“ ein, dem wohl größten der Band, die so gut wie jeder aus voller Kehle mitsang. Nach nicht einmal 70 Minuten hatten Die Antwoord ihre Geschichte auserzählt. Bei der Zugabe „Enter der Ninja“ sprang ebenjener Ninja noch einmal ins Publikum, bevor sich Yolandi mit „Thank you Vienna, Austria. We happy“ beim Publikum bekannte. Es war kurz, es war intensiv, es war laut und es war abgedreht. Die Fakten: Das Moralverständnis bleibt ein dehnbarer Begriff und Die Antwoord feiern derzeit einen global tourenden K.-o.-Sieg gegen die Erregungsgesellschaft.
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