Zwischen den Stühlen zu sein, kann auch Vorteile mit sich bringen. Der Holländer Arnold de Boer exerziert mit seinem Projekt Zea einen Sound, der viele Genres umspannt und sich nicht so leicht einordnen lässt. Damit kommt er in Kürze auch endlich wieder nach Wien.
Wenn man gerade nicht ausschließlich dem Formatradio zugetan ist oder sich die Spotify-Algorithmen kritiklos in Herz und Hirn übergehen lässt, weiß man, dass die wahre Kraft der Musik von selbst schaffenden Leidenschaftlichen aus der zweiten und dritten Reihe kreiert wird. Sie sind es, die das Werk am Laufen und die Kunst interessant halten, um auch abseits der nicht mehr zweifelsfrei unterscheidbaren Auswüchse zwischen Superstars und der KI zu brillieren. Der Holländer Arnold de Boer gehört zu jenen, die ihre Musik nicht aus kommerziellen, sondern strikt artifiziellen Gründen kreieren und dabei am liebsten frei von allen Erwartungshaltungen die Richtung wechseln. Mit seinem Projekt Zea startete er ursprünglich als Fünf-Mann-Band, schrumpfte dann zum Duo und ist seit 2009 solo unterwegs, wobei er sich vorbehält, Gäste ins Studio oder auf die Bühne zu laden.
Die Depression heraus spaziert
Musikalisch ist Zea genauso eine Wundertüte wie de Boer selbst. Sein Sound mäandert zwischen Akustikgitarre, Minimal-Electro, Punkrock oder Singer/Songwriter mit Folk-Attitüde – durchaus mit speziellen Ideen. Sein im Jänner 2021 erschienenes Album „Minimal Guitar“ etwa entstand aus Impressionen von langen Spaziergängen. Nach dem Sommerurlaub 2020 entschied sich de Boer an einem Montagmorgen, nicht gleich den PC aufzudrehen, um E-Mails zu abgesagten und verschobenen Konzerten zu beantworten, sondern einfach loszumarschieren. In elf Tagesetappen ging er die 35 Kilometer lange Amsterdamer Ringstraße ab, kreuzte dabei alle Grachten und Wasserstellen. Er sah in seiner Heimatstadt Plätze, die ihm noch nie auffielen und kam stellenweise mit wildfremden Menschen ins Gespräch.
„Als ich am Nachmittag heimkam, hatte ich den intensiven Drang, all die Erlebnisse in Musik festzuhalten. Diese Spaziergänge haben mich wieder glücklich gemacht und aus der Corona-Depression geholt“, erzählt er uns im Interview. Im August 2021 spielte de Boer auch letztmals solo in Wien, die offenen Sommer haben zumindest etwas Geld in die klammen Kassen gespielt. Erzwungener Stillstand ist für einen Künstler, der laut eigenem Bekunden mehr als 2000 Livekonzerte spielte, das schlimmste Schicksal. „Ein paar Monate lang habe ich all das gemacht, was ich immer machen wollte und im Dachboden mein Studio aufgeräumt und experimentiert, aber dann kam die große Leere.“ Seine heute neun und sechs Jahre alten Kinder waren ob der ständigen Anwesenheit ihres sonst so nomadenhaft lebenden Vaters ebenfalls erstaunt. „Als ich dauernd daheim war, war es für sie ungewohnt, wenn ich wieder ging. Ich bin aber sehr froh, dass jetzt endlich wieder alles okay ist.“
Weltoffenheit erlernt
Für sein letzten Herbst veröffentlichtes Album „We Are Still Each Other’s Only Hope“ hat sich de Boer mit unterschiedlichen Freunden und Bekannten wie Mats Gustafsson, Xavier Charles, dem Ghanaer Francis Ayamga oder dem Japaner Arakawa Atsushi zusammengetan. Das Weltbürgerliche hat er als junger Erwachsener bei einem längeren Aufenthalt in Kenia gelernt. „Ich war damals jung und hatte eine ziemlich klare Vorstellung vom Leben und der Welt. Ich war ein engstirniger Anarchist. In Kenia, ich war damals 19, habe ich aber schnell gesehen, dass meine Wertevorstellungen wenig mit der dortigen Realität zu tun haben. Anstatt Vorurteile zu haben und diese auch noch zu pflegen, habe ich begonnen alles zu hinterfragen und von allen Seiten zu begutachten. Es gab Zeiten, da dachte ich auch in der Musik, ich hätte die Weisheit mit dem Löffel gefressen. Jetzt beginne ich bei jedem Projekt wieder bei null.“
Direkt nach seinem Kenia-Erlebnis folgte ein Australien-Aufenthalt, wo er vom anfänglichen Rucksacktouristen zum Straßenmusiker mutierte und die nächsten weitreichenden Erkenntnisse fürs eigene Leben erlernte. „Ich wusste plötzlich, dass ich meine Geschichten erzählen und die von anderen Menschen aufsaugen müsse. Deshalb hat meine Musikkarriere in Holland auch erst danach so richtig losgelegt.“ Mit Zea hat sich de Boer eine Art zweite Identität erschaffen, die für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Die Bandbreite geht nicht nur musikalisch, sondern auch sprachlich über alle Grenzen hinaus – selbst in seinem heimatlichen Friesisch hat er sich schon auf Tonträgern verewigt. „Es ist die Sprache meiner Mutter und in ihr drücke ich mich viel emotionaler und persönlicher aus. Als ich das erste Mal auf Friesisch sang, war es so, als hätte ich einen neuen Raum in meinem Kopf entdeckt. Englisch verwende ich eher für Politisches und Gesellschaftskritisches.“
Punk ist noch immer wichtig
De Boers musikalische Sozialisation fand im Punk statt, die Wurzeln dorthin hat er bis heute nicht gekappt. So ist er seit 2009 auch Sänger und Gitarrist der niederländischen Kultband The Ex, die sich ursprünglich schon 1979 während der einstigen Punk-Explosion formiert hat. Rund um den aus England stammenden Gitarristen Andy Moor stehen immer wieder Auftritte ins Haus, das letzte Album „27 Passports“ datiert aus dem Jahr 2018. „Wir sind eine vierköpfige Band, die im Proberaum zusammenkommt und dort Songs schreibt. Dort muss ich meine Ideen mit anderen teilen, während Zea ganz meiner Kontrolle und meinen Vorstellungen entspricht.“ De Boer arbeitet gleichermaßen gerne alleine als auch als Teamplayer. „Im Endeffekt bin ich aber sehr froh, dass ich mich in beiden Welten austoben kann, denn nur zusammen fühle ich mich komplett.“
Live in Wien
Am 29. April kommt de Boer mit seinem Projekt Zea und Freund/Kollege Xavier Charles endlich wieder für eine Show nach Wien, und zwar in den Central Garden am Donaukanal. Tickets zum wirklich fairen Preis gibt es dort übrigens nur an der Abendkassa.
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