Milliarden für Kiew
Ändert „Erleuchtung“ der USA den Kriegsverlauf?
Die USA werden die Ukraine nach Monaten der politischen Blockade wieder mit Waffen versorgen. Im Mittelpunkt der amerikanischen Einsicht steht ausgerechnet jener Politiker, der bisher alle Versuche abwürgte. Wie kam es zu der Wende? Und ist es nicht schon viel zu spät, um Wladimir Putins Truppen aus der Ukraine vertreiben zu können?
Der Republikaner Mike Johnson ist auf dem Papier einer der mächtigsten Männer der USA. Als Sprecher des Repräsentantenhauses war er es, der eine Abstimmung über weitere Ukraine-Hilfen über Monate verhinderte – und damit zur ukrainischen Frontmisere erheblich beigetragen hat.
Dazu getrieben hatte ihn ein kleiner, radikaler Kern seiner Partei: Trumpisten! Angeführt werden sie von der Abgeordneten Marjorie Taylor Greene, die die Ukrainer frei nach den Fantasien Putins als „Nazis“ bezeichnet. Sie drohten Johnson zuletzt offen damit, ihn seines Amtes entheben zu wollen, sollte er eine Abstimmung möglich machen. Anfang des Jahres griff Donald Trump auch höchstselbst ein, um ähnliche Gesetzespakete durch Johnson und andere hörige Republikaner scheitern zu lassen.
Eine göttliche Eingebung?
Doch in den vergangenen Monaten, während ukrainische Apartmentblocks brannten und Putin systematisch die Zivilgesellschaft bombardieren ließ, machte Johnson etwas, auf das viele gewählte Republikaner mittlerweile verzichten: seinen Job. „Die Geschichte beurteilt uns nach dem, was wir tun“, sagte er kurz vor der historischen Abstimmung im Kapitol.
Teil seiner Kehrtwende in Sachen Ukraine seien neben göttlichem Beistand Informationen der amerikanischen Geheimdienste gewesen. Johnson, der als religiöser Fanatiker gilt und eigentlich der Trump-Fraktion anzurechnen ist, habe über Monate an entsprechenden Briefings teilgenommen. Auch im Oval Office von Joe Biden sei es zu langen Unterredungen gekommen, die offenbar Eindruck hinterließen.
Johnson wird von Realität eingeholt
Persönliche Schilderungen vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hätten Johnson besonders in seinen christlichen Grundfesten erschüttert, berichten US-Journalisten.
Teilnehmer der geheimen Treffen skizzierten, dass Johnson dabei die Tragweite seiner bisherigen Blockade „richtig bewusst“ geworden sei. Zu Reportern meinte ein „erleuchteter“ Johnson jüngst: „Ich glaube, dass Wladimir Putin weiter durch Europa marschieren würde, wenn man es ihm erlauben würde. Ich denke, er könnte als nächstes ins Baltikum gehen. Ich denke, es könnte zu einem Showdown mit Polen oder einem unserer NATO-Verbündeten kommen.“
Johnsons Aussagen zum Nachhören:
Das klang vor wenigen Monaten noch ganz anders. Da wollte „Mr. Speaker“ noch Milliarden für den US-Grenzschutz erpressen, bevor er irgendwelche Gedanken an andere Konfliktlinien verschwende, die nicht direkt an die USA grenzen.
Kommt Paket nicht viel zu spät?
Eine 180-Grad-Drehung später hat der Blockierer neue Milliarden-Hilfen für die Ukraine durch seine Kammer geboxt – mit der vollen Unterstützung der Demokraten. Noch in dieser Woche wird der US-Senat nachziehen. Die ersten Lieferungen werden in wenigen Tagen erwartet, sobald Biden das Gesetz unterzeichnet hat. Ein Teil der Hilfen befände sich bereits in Polen und anderswo in Europa, schreibt die „Financial Times“. Die Waffen und Munition dort seien transportbereit. Doch ist es dafür nicht schon viel zu spät?
Analysten gehen davon aus, dass Russland seine Angriffsbemühungen in den nächsten Wochen verschärfen wird. Bereits jetzt müssen die ukrainischen Soldaten entlang der etwa 1000 Kilometer langen Frontlinie ihre Munition stark rationieren. Selenskyj erklärte jüngst, dass auf jede ukrainische Artilleriegranate zehn russische Geschosse kämen. Armeechef Oleksandr Syrsky warnte Anfang April, die Lage an der Front habe sich „erheblich verschlechtert“.
Großteil fließt nicht direkt nach Kiew
Hinzukommt, dass ein Großteil des 61-Milliarden-Dollar-Pakets nicht direkt für den Bedarf der Ukraine verwendet wird. Die Gelder sind unter anderem für das Auffüllen der geleerten Arsenale der USA und ihrer Verbündeten vorgesehen. Trotz der neuen Hilfen wird Kiew mit weniger als in den Vorjahren auskommen müssen. Und das in einer Situation, in der Kriegsgegner Russland seine eigene Produktion ständig ausweitet und zudem auf die Herstellungskapazitäten im Iran und in Nordkorea zurückgreifen kann.
„Die Hilfe kommt viel zu spät, da die Ukraine aufgrund des Materialmangels im Oktober 2023 die Initiative verloren hat“, so Kateryna Stepanenko, Russland-Analystin am Institute for the Study of War. Seit Oktober hätte die Ukraine 583 Quadratkilometer Territorium an die russischen Streitkräfte verloren, was größtenteils auf einen Mangel an Artillerie zurückzuführen sei. Russland hatte zudem Zeit, sich auf die für das späte Frühjahr oder den frühen Sommer erwarteten Offensivoperationen vorzubereiten. Das neue Paket ist also nur ein dringend benötigtes Pflaster.
Die Ukrainer sind müde
Die Ukraine hat zudem ein anderes Nachschubproblem. Etwa 300.000 Soldaten stehen im direkten Fronteinsatz. Frische Truppen sind kaum verfügbar. Das kürzlich auf 25 Jahre herabgesetzte Mobilisierungsalter und verschärfte Registrierungspflichten für wehrpflichtige Männer sollen die Situation verbessern.
Selenskyj empfing am Montag Mitglieder des US-Kongresses:
Zugleich ist die Bereitschaft, in die Armee einzutreten, äußerst niedrig. Einer Umfrage zufolge können sich nur gut 20 Prozent der infrage kommenden 25- bis 59-Jährigen vorstellen, in der Armee zu kämpfen. Mehr als 700.000 wehrpflichtige Ukrainer sind zudem allein in der EU als Flüchtlinge registriert. Sie dürften kaum vor Kriegsende in das Land zurückkehren.
USA bleiben Risikofaktor
Wann die nächste Milliarden-Spritze aus den USA kommt, ist zudem völlig unklar. Trump könnte im November wiedergewählt werden. Aktuell ist es nicht abzusehen, wie er mit dem Ukraine-Krieg umgehen würde. Bei der jüngsten Abstimmung war er auffällig ruhig.
Zwei Tage vor der Verabschiedung der Ukraine-Milliarden ließ er verlautbaren, dass das „Überleben und die Stärke der Ukraine“ auch für die USA wichtig sei. Was seiner bisherigen Ukraine-Politik völlig widerstrebt. Seine Widersprüchlichkeit bleibt die einzige Konstante der vergangenen Tage. Klar ist im Moment nur, dass ein Ende des Krieges nicht in Sicht ist.
Ist Johnson nun ein zuverlässiger Partner Kiews?
Zur Realität gehört auch, dass Johnson jetzt um seinen Job als Sprecher bangen muss. Marjorie Taylor Greene hat bereits angekündigt, den „Verräter“ seines Amtes entheben zu wollen. Damit würde das US-Repräsentantenhaus wiederholt ins Chaos gestürzt und handlungsunfähig werden.
Doch für Johnson, der Berichten zufolge bis zuletzt zwischen seinem Amt und den Milliarden für die Ukraine hin- und hergerissen war, spielt ein weiterer Faktor eine wichtige Rolle: Sein ältester Sohn wurde kürzlich in die Marineakademie aufgenommen.
„Um es ganz offen zu sagen: Ich würde lieber Kugeln in die Ukraine schicken als amerikanische Jungs. Mein Sohn wird in diesem Herbst an der Marineakademie anfangen. Dies ist für mich wie für viele amerikanische Familien eine Übung mit scharfer Munition“, erklärte Johnson gegenüber Reportern. Dem „Erleuchteten“ ist in den vergangenen Wochen vor allem eines klar geworden: „Das ist kein Spiel, das ist kein Scherz!“
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