Seit einem halben Jahrhundert begeistert das US-amerikanische Kronos Quartet mit seiner Art Streichquartette zu interpretieren Musiker, Komponisten und ein breites Publikum weltweit. Nach langer Zeit spielt das Ensemble um David Harrington am 15. Mai auch wieder einmal in Wien, im Konzerthaus.
Sie haben das Streichquartett in eine neue Dimension geführt und nützen dessen Wurzeln in der Wiener Klassik als Fundament für eine Erkundungsreise durch Weltgegenden, Kulturen und Musikstile, die sie gemeinsam mit zeitgenössischen Komponisten, Musikern und dem Publikum unternehmen. Der Klang spiegelt die Vielfalt von expressiv, experimentell, oft sehr stark rhythmisch, dann wieder durchaus exotisch, zärtlich oder zerbrechlich. Nichts weniger als das ganze Leben.
Ensemblegründer David Harrington sprüht auch nach 50 Jahren noch vor Begeisterung, Energie und einer unbändigen Neugierde, die in alle Richtungen ansteckend ist und stellt im online-Gespräch fest: „Es ist einfach wunderbar, was heute in der Welt der Musik passiert!“
Am Beginn stand der Es-Dur-Akkord
Die Geschichte des Kronos Quartet beginnt mit dem Eröffnungsakkord in Es-Dur von Beethovens Streichquartett Opus 127 in der Version des Budapest String Quartet: Die Wucht dieses kurzen Moments fesselte den jungen David Harrington Anfang der 1960er Jahre derart, dass er beschloss: „Ich muss einen Weg finden, selbst so einen Klang zu erzeugen.“ Mit Kollegen aus dem Seattle Youth Orchestra gelang es schließlich, dieses Erlebnis für eine Zehntelsekunde zu erreichen. Seither ist die Suche nach der perfekten Zehntelsekunde ein Grundprinzip des rastlosen Geigers und seiner Mitmusiker.
Musikalische Antwort auf den Vietnamkrieg
Der nächste Schlüsselmoment kam für Harringtonmit dem Streichquartett „Black Angels“ von George Crumb, einer musikalischen Antwort auf den Vietnamkrieg und die Weltsituation in den 1970ern: In 13 Sätzen mit Referenzen an Schubert, die Renaissance, an Jimi Hendrix und Béla Bartók, ist es das erste elektrisch verstärkte Streichquartett, mit Verzerrungen, mit ungewöhnlichen Klangquellen wie Gongs, gestimmten Kristallgläsern und Sprechgesang in unterschiedlichen Sprachen.
Es war für Harrington ein Erlebnis wie der Beethoven'sche Es-Dur-Akkord und die Gewissheit: Das ist es. Eine direkte Antwort auf alles, was rundherum passiert. 1973 gründete er also mit gleichgesinnten Musikerfreunden das Quartett und nannte es Kronos. Ein kleines Missverständnis, sollte es doch zunächst Chronos, die personifizierte Zeit heißen und nicht dem Kinder verschlingenden griechischen Göttervater huldigen …
50 neue Stücke
Man begann mit Bartók, Strawinski, Hindemith, wagte sich schließlich auch an das herausfordernden „Black Angels“ und gewann zunehmend Komponisten aus der ganzen Welt, Werke speziell für Kronos zu schaffen.
Zum 50-Jahr-Jubiläum gibt es daher auch 50 neue Stücke, die im Laufe der weiträumigen Konzerttour in unterschiedlichen Konstellationen aufgeführt werden und die auch bei den Auditions für die Nachbesetzung der zwei in Kürze freien Stellen für die langjährigen Mitglieder John Sherba an der Geige und Hank Dutt an der Viola auf dem Programm standen. Als Cellist kam erst jüngst Paul Wiancko dazu.
Ko-Komponisten für das Gesamtereignis
Die Zusammenarbeit mit den Komponisten stellte schon sehr früh einen wichtigen Faktor in deren Umsetzung der Musik und Intentionen dar. Wie der Komponist über sein Stück spricht, was die Komponistin den Musikern vorsingt, versuchen die Ensemblemitglieder aufzunehmen und bestmöglich in ihre Spielweise umzusetzen. Sie werden damit Ko-Komponisten, hören sorgsam auf das Gesamtwerk und bringen ihre Ideen ein.
Die Energien, die hier freigesetzt werden, spornen zur gemeinsamen Neugierde und zum bedingungslosen gemeinsamen Weitermachen an – und sie übertragen sich auf das Publikum. Die Bandbreite an musikalischen Möglichkeiten wird immer größer und es ist, so Harrington „eine Freude, neue Dinge zu lernen!“
Das spürt natürlich auch das Publikum und das erklärt den Erfolg des Kronos Quartet. Und die neue Musik nimmt nichts von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert weg: „Hätte Schubert die indonesische Musikerin Peni Candra Rini gekannt, er hätte sie für sie schreiben wollen“, ist Harrington überzeugt und das gelte auch für Beethoven und afrikanische und indische Musik. Kreative Menschen nützen, was es im Moment gibt, sie arbeiten mit dem, was sie fasziniert. So wie Harringtons Es-Dur-Akkord.
Weg mit dem Vibrato
Prägende Momente gab und gibt es in der langen Geschichte des Ensembles immer wieder, sie sind ein kontinuierlicher Faktor auch für die Weiterentwicklung des Klangs und der Spielarten der Musiker. Terry Riley, Pionier der Minimal Music und einer der vielen Komponisten, die mit dem Kronos-Quartet immer wieder zusammenarbeiten, forderte in den frühen 1980ern, das Vibrato aus dem Spiel zu nehmen – und erzeugte damit ein völlig neues Hörerlebnis, als es schließlich gelang: Unglaublich expressiv und exakt, wie Harrington erzählt, und: „Das Stück veränderte unseren Klang vollkommen.“
Der polnische Avantgardekomponist Henryk Górecki legte seine musikalischen Intentionen während einer Probe als Luft-Violinen-Performance dar, was, so Harrington, wirkte, als würde er zum E-Gitarren-Sound von Jimi Hendrix spielen: „Umwerfend!“ Morton Feldman wiederum gab zu einem Werk mit den langgezogenen Tönen die auf den ersten Blick etwas ungewöhnliche Anweisung: „Es soll klingen wie Schubert!“ Und mit diesem Bild brachte er eine Richtung in die Interpretation, an die man zuvor nicht gedacht hatte und die ungeahnte Wege öffnete.
Vorfreude auf das Wien-Konzert
Beim Konzert in Wien gibt es nun Schlüsselwerke und neue Kompositionen zu hören – von Sun Ra, Terry Riley, Peni Candra Rini, Steve Reich und anderen. Auch die Vorfreude von David Harrington ist ansteckend: „Ich kann es gar nicht erwarten, dass Sie unser Programm in Wien hören!“
Verena Kienast
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