Mit Stereo Total schrieb die aus dem französischen Burgund stammende Wahl-Berlinerin Françoise Cactus Indie-Musikgeschichte. Vor drei Jahren starb sie viel zu früh an Brustkrebs. Im Buch „Oh Oh Mythomanie“ (Ventil Verlag) lässt uns ihr einstiger Kreativpartner Brezel Göring an bisher unveröffentlichten Texten, Geschichten und Kuriositäten teilhaben.
In einer trotz aller Underground-Bemühungen doch sehr klassischen und vergleichsweise geputzten Stadt wie Wien kann man sich eigentlich gar nicht wirklich vorstellen, welche Wirkung eine Person wie Françoise Cactus auf die Punk-Szene in Berlin einst ausübte. Die quirlige Multitalent-Künstlerin stammte aus dem französischen Burgund, studierte in Paris und kam über einen norwegischen Umweg 1985 nach Deutschland. Da war sie gerade einmal 20 Jahre jung und tauchte tief in die Hausbesetzerszene ein. Durchzechte Nächte in schummrigen Gothic-Bands vor dem Mauerfall. Toxische Beziehungen zu Alkohol und allerlei Drogen und der in Punk-Lebensverneinungskreisen übliche Gedankengang vom schnellen Leben, das man am besten früh genug beendet, weil die Welt sowieso am Atomkrieg untergehen würde, waren mehr als real.
Viel zu frühes Ende
Diese und weitere Einsichten in ein Leben, das aufgrund von Neoliberalismus und Gentrifizierung heute gar nicht mehr möglich wäre, findet man im druckfrischen Buch „Françoise Cactus – Oh Oh Mythomanie: Erlebtes, Erinnertes & Erlogenes“. Das knapp 300-seitige Werk aus der Szene-Kennerschmiede Ventil Verlag wurde anlässlich des am 5. Mai stattgefundenen 60. Geburtstags der greifbaren Anti-Diva zusammengestellt. Wobei das nicht so sicher ist, denn die schräge Vollblutkünstlerin spielte zeit ihres Lebens dermaßen geschickt mit Sein und Schein, dass noch nicht einmal die Geburtsjahreszahl mit absoluter Sicherheit gewährleistet ist. Gewiss ist nur, dass sie im Februar 2021 in ihrer über alles geliebten Wahlheimat Berlin viel zu früh an Brustkrebs verstarb und nicht nur eine künstlerisch nicht zu schließende Lücke hinterließ.
Cactus war ein kreativer Freigeist, der weder sich noch sein Umfeld schonte und in der allumfassenden Sprunghaftigkeit seiner Ideen keine Grenzen kannte. Sie war gleichermaßen kompromisslose Anarchistin wie auch ewiges Kind, dessen Erwachsensein sich nur im alternden Körper und den erbarmungslosen Ausweisdokumenten zu erkennen gab. Eine entscheidende Wende nahm Cactus‘ Leben, als sie 1992 in Berlin den Musiker Brezel Göring kennenlernte und mit ihm wenig später die Kultband Stereo Total gründete. In 16 Jahren brachten sie es mit ihrem punkigen Synthiepop auf 13 Alben. Der dem legendären Andreas Dorau nahestehende Sound führte das Duo live quer über den Globus und zu einer Karriere, mit der Cactus selbst wohl am wenigsten rechnete.
Den Nachlass geöffnet
Wie sehr sie jahrelang in der Reibungsfläche zwischen ehrlichem Underground und leichtem Ausverkauf zu tüfteln hatte, wird einem nicht zuletzt im Roman „Lebenslänglich vierzehn“ klar, an dem Cactus 15 Jahre lang akribisch tüftelte, sogar an darin vorkommenden Orten recherchierte, ihn aber nie veröffentlichte. Göring ist es nun zu verdanken, dass man nicht nur Zugang zu diesem schwarzhumorig-sarkastischen Urlaubsthriller mit Anleihen an das echte Leben hat, sondern noch einmal knietief in die Vita der Kultfigur eintauchen kann. Nach Auflösung der gemeinsamen Wohnung schöpfte er aus 16 Truhen voller Songs, Texte, Zeichnungen, Geschichten, Fotografien und Ideensammlungen, die akribisch gesichtet und geordnet und schlussendlich hiermit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.
„Oh Oh Mythomanie“ bietet dabei nicht nur eine Rückschau auf rund drei Jahrzehnte eines halböffentlichen Lebens, das sich weder Pausen noch Rast gönnte, es ist auch eine Hommage an die Gefühlswelt und Detailverliebt von Cactus. Man wird als Außenstehender direkt in die spannende Berliner Club-Szene der 80er-Jahre zurückgebeamt, wird Zeuge, wie sie von Kolleginnen wie France Gall oder Juliette Gréco schwärmt, wie sie auf Biegen und Brechen versucht, sich das Rauchen abzugewöhnen oder wie sie schon früh in ihrer Berlin-Zeit erfahren musste, dass sexistisch motivierte Ausgrenzung auch im linkslinken Milieu Usus war – und ihr damit für die weitere Zukunft die Augen öffnete. In ihren Texten erzählt Françoise so gut wie immer von sich selbst, auch wenn sie manchmal den (nicht gelingenden) Weg der Verschachtelung bei Erzählungen wählt.
Bewusstes Anti-Establishment
Die unbändige Fantasie in Cactus‘ Sprache, die man schon bei Stereo Total verfolgen konnte, lässt sich in Songskizzen oder kuriosen Rezepten noch einmal rekapitulieren. Wer mit Françoise Cactus noch niemals zuvor in Berührung kam, lernt über dieses Buch eine interessante Persönlichkeit kennen, die es in ihrer direkten, der Kunst völlig blind und leidenschaftlich dienenden Art wahrscheinlich nicht zweimal gegeben hat. So sehr die Grundprinzipien von Françoise auch immer in der Verweigerung und dem Anti-Establishment verwurzelt sein mochten, ihre allumfassende Präsenz erfreute auch Kreise, die sich üblicherweise wenig mit der dreckigen Seite an einer charakterstarken Szene befassten. Und glauben Sie mir: Nach dem Genuss dieses Buches werden Enten ein anderes Bild in ihrem Kopf einnehmen.
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