Wiener Festwochen: Mit dem Kaddish Requiem „Babyn Jar“ von Jevhen Stankovych gedenkt man am Sonntag im Wiener Konzerthaus des Genozids der Nationalsozialisten in der Ukraine. Die Dirigentin Oksana Lyniv sieht Analogien zu heute.
Sie zählt zur internationalen Dirigenten-Spitze, war erfolgreiche Musikchefin der Oper Graz und hat als erste Frau bei den Bayreuther Festspielen dirigiert: Die Ukrainerin Oksana Lyniv, die von den Festwochen eingeladen wurde, mit Orchestern und dem Nationalchor ihrer Heimat am Sonntag im Konzerthaus das Kaddish Requiem „Babyn Jar“ von Jevhen Stankovych aufzuführen.
Fast hätte das Konzert nicht stattgefunden, denn Wiener Festwochen-Intendant Milo Rau lud zugleich Teodor Currentzis für ein „Friedenskonzert“ ein. Doch der russisch-griechische Dirigent hat sich bis heute nicht zum russischen Angriffskrieg geäußert.
Kronenzeitung: Frau Lyniv, das Currentzis-Konzert wurde nach ihrem Protest abgesagt. Wie viel Haltung braucht man?
Oksana Lyniv: Es gibt Künstler, die ihre Meinung offen präsentieren und mit ihrem Schaffen deutlich zeigen, dass sie Regime nicht unterstützen. Das Gegenteil ist bei Teodor Currentzis der Fall, der immer wieder Werke wie ein Requiem auf dem Spielplan hat, aber weiterhin in Russland auftritt, und mit russischen Sponsoren, die auf europäische Sanktionsliste stehen, zusammenarbeitet. Deswegen ist er für mich nicht der Künstler, mit dem ich ein Friedensprojekt eingehen würde.
Wie politisch sollen, dürfen, müssen Dirigentinnen und Dirigenten sein? Wann muss man versöhnliche werden?
Es geht nicht unbedingt um die Politik. Die Kunst spiegelt natürlich immer gesellschaftliche Entwicklungen wider. Die Kunst ist immer dazu da, die Traumata zu reflektieren, den Schmerz zu trösten, und die Wunden zu heilen.
Mit welchen Gefühlen dirigieren Sie aktuell Jevhen Stankovychs Kaddish-Requiem »Babyn Jar«?
In der Ukraine findet auch ein Genozid statt. Russland wirft Bomben und Raketen auf zivile Städte. Kirchen, Museen, Schulen, Druckereien werden zerstört. Diese Orte befinden sich nicht in der Kampflinie und werden trotzdem täglich angegriffen. In jedem Teil der Ukraine, von der Großstadt bis zu kleinen Dörfern, gibt es alle paar Tage Trauerfeiern und Beerdigungen von jungen und älteren Soldaten. Uns wird das normale Leben geraubt.
Junge Menschen sind gezwungen, unsere Freiheit an der Front zu verteidigen. Viele sind verschwunden oder in Gefangenschaft, unter unmenschlichen Bedingungen. Und das alles gerade einmal 70 Jahre, nachdem es geheißen hat, dass in Europa endlich Frieden herrscht, dass es nie wieder passieren soll … Wenn ich daher die dramatische Partitur von Stankovych dirigiere, denke ich, dass sich die Geschichte leider wiederholt und der Frieden ein Traum bleibt.
In Wien dirigieren Sie das Kyiv Symphony Orchestra und Mitglieder des von Ihnen 2017 gegründeten YsOU - Young Symphony Orchestra of Ukraine. Wie ist die aktuelle Situation für Musiker der beiden Orchester?
Das Kiewer Symphonieorchester probt seit eineinhalb Jahren im Exil in Deutschland. Mein Jugendsinfonieorchester trifft sich regelmäßig für Touren und Projekte europaweit. Viele von den Jugendlichen wohnen und studieren zurzeit in Europa, vielen haben wir geholfen, in Sicherheit zu kommen.
Einige bleiben immer noch in der Ukraine bei ihren Familien und Musikakademien und reisen für unsere Projekte an.
Für die männlichen Mitglieder müssen wir oft eine Sondergenehmigung zur Ausreise beantragen. Es gibt auch viele wunderbare Partner, die das Jugendorchester unterstützt und die Entwicklung des Orchesters gesichert haben. Die Berliner Philharmoniker haben sogar die offizielle Patenschaft über zwei Orchester, das Kyiv Symphony Orchestra und das Jugendorchester, übernommen.
Welchen Stellenwert besitzt das Konzert in Wien für die beiden Orchester?
Das Konzert in Wien bedeutet für uns alle enorm viel. Ich bin den Wiener Festwochen und dem Wiener Konzerthaus sehr dankbar für diese großartige Initiative.
Nach der Besetzung Kiews 1941 wurde von den Nationalsozialisten die Vernichtung der Kiewer Juden beschlossen. Auf Plakaten wurden diese aufgefordert, sich zu Umsiedlungsmaßnahmen einzufinden. 30.000 Menschen folgten. Sie wurden zur nahe der Stadt gelegenen Schlucht Babyn Jar getrieben. Dort mussten sie sich ausziehen und in Zehnergruppen an den Rand der Schlucht stellen. Dann wurden sie niedergeschossen.
Laut einem Einsatzgruppenbericht wurden so am 29. und 30. September 1941 insgesamt 33.771 Juden umgebracht. In den folgenden Monaten kamen Tausende weitere Tote, Juden, „Zigeuner“ und sowjetische Kriegsgefangene, dazu. Insgesamt wurden nach Untersuchungen der sowjetischen Staatskommission in Babyn Jar rund 100.000 Menschen ermordet.
Im Zuge des deutschen Rückzugs 1943 sollten die Spuren des Massenmords verwischt werden. Insassen eines nahen Lagers mussten die Leichen ausgraben und verbrennen.
Quelle: Heinke Lang/Deutsches Historisches Museum, Berlin
Was erwarte die Zuhörer bei Jevhen Stankovychs Kaddisch-Requiem?
Es geht im Requiem um schreckliche Dinge, um Dinge, die wir auch heute jeden Tag erleben: diesen Vernichtungs- und den Machtwahn, um jeden Preis. Es geht um die vergessenen Opfer dieses Wahns. Der Komponist Jevhen Stankovych, er kann leider nicht zur Wiener Aufführung kommen, wollte darin zwei Dinge verbinden: Kaddish und das christliche Requiem, damit wir aller Opfer zusammen gedenken.
Was zeichnet seine Komposition aus?
Er benutzt eine besondere musikalische Sprache, mit vielen Momenten von jüdischer archaischer Musik, und auch Stellen, wo man ein christliches Gebet hören kann. In diesem Stück stellt er die Frage nach Gerechtigkeit. Die Opfer stellen die Frage an Gott: Wenn du uns nach deinem Ebenbild geschaffen hast, warum lässt du das zu? Warum lässt du zu, dass wir in diesem Schmutz vergessen liegen? Sie verlangen nach einem Gericht, es soll nichts vergessen werden, es soll Verantwortung übernommen werden.
Wie empfinden Sie dieses Requiem?
Das Werk reißt den Vorhang der Geschichte auf. Es geht um Tatsachen. Alles beginnt mit einem Tamtam-Schlag, dann sind da im Pianissimo Reihen von 10 Tönen. Ich sagte in der Probe: Das sind die Opfer. Sie sind wie Schatten, die gewartet haben, dass man sich an sie erinnert, dass sie aus der Vergessenheit treten.
Denn das sowjetische Regime wollte die Erinnerung an die Judenvernichtung auslöschen. Es wurde an diesem Ort ein Park eingerichtet, wo man spazieren gegangen ist. Bis 1961 gab es dort eine Tanzfläche, man hat an diesem Ort gegessen und getrunken, und war sich nicht bewusst, dass nur ein paar Zentimeter darunter in der Erde alle diese Opfer liegen.
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