Live in der Stadthalle

Tool: Im Mahlstrom der klanglichen Dissonanzen

Musik
11.06.2024 00:55

Trotz monströser Eintrittspreise und einem Sitzplatzkonzert wagten sich rund 10.000 Fans Montagabend in die Wiener Stadthalle, um die US-Prog-Metal-Könige von Tool zu empfangen. Sie sollten es nicht bereuen, denn der Gig der schrägen Kalifornier erwies sich als audiovisuelles Meisterstück.

(Bild: kmm)

So mancher, der sich nicht zwingend zur Tool-Die-Hard-Fanbase zählt, würde behaupten, für den Hörgenuss der amerikanischen Prog-Metal-Millionäre bräuchte man einen Abschluss in technischer Mathematik. Doch beim ersten Stelldichein in der Wiener Stadthalle nach fünf Jahren sollte man eher gut in Rechnungswesen sein. Wer sich Maynard James Keenan und Co. mittig in den vorderen Reihen ansehen möchte, legt knapp 300 Euro auf das Bandkonto. Die sich Stadt für Stadt verändernden Tourposter bekommt man um wohlfeile 80 Euro, signierte kosten schon 300. Will man gar ein unterschriebenes Doodle-Poster, dann legt man schlanke 2000 Euro auf den Tisch. Noch besser: Als VIP-Upgrade kann man sich für etwa 300 US-Dollar einen Zugang zum Soundcheck der Band erkaufen. Blöd nur, dass der Frontmann in Wien für die Auserwählten nicht zur Verfügung stand – dass es keine Garantie auf alle Mitglieder gibt, steht natürlich im Kleingedruckten. Eh klar.

Gitarrist Adam Jones brillierte mit offen zur Schau gestellter Coolness und Soli zum Niederknien. (Bild: Andreas Graf)
Gitarrist Adam Jones brillierte mit offen zur Schau gestellter Coolness und Soli zum Niederknien.

Gegen die Erwartungshaltungen
Wer sich nicht zu sehr am galoppierenden Turbokapitalismus des Kollktives aus Los Angeles stört, der freut sich über eine der besonders raren Messen seiner Götter, die sich nicht nur auf der Bühne, sondern auch in puncto Studioarbeit nur sehr selten auf irdischen Boden niederlassen. Das 2019 veröffentlichte Album „Fear Inoculum“ war das erste nach 13-jähriger Schaffenspause. Ein weiteres sollte man sich von den Mittsechzigern in geraumer Zukunft lieber nicht erwarten. Auf ihrer Europa-Tour strapazieren die Könner zudem die Nerven ihrer zahlungsfreudigen Fans mit wankenden Setlists. Die London-Besucher etwa beklagten sich, dass Hits wie „Stinkfist“, „Sober“ oder „Ticks And Leeches“ unbeachtet blieben. Im Laufe der Tour hat das Quartett aber ein bisschen nachjustiert und die Chose zugänglicher gemacht.

Drummer Danny Carey erwies sich an seinem monströsen Set nicht nur als Taktgeber, sondern auch als Kopf der Band. (Bild: Andreas Graf)
Drummer Danny Carey erwies sich an seinem monströsen Set nicht nur als Taktgeber, sondern auch als Kopf der Band.

Tool sind live insofern ein Erlebnis, als sie keine einzeln herausgestellten Songs benötigen, um positiv im Gedächtnis zu bleiben. Nach dem fulminanten und frenetisch bejubelten Opener „Jambi“, bei dem in der Hallenmitte die Sitzplätze sofort zu Stehplätzen mutieren, wendet sich der streitbare Sänger das erste Mal an sein Publikum und fordert wiederholt Jubelstürme ein. „Seid im Jetzt, seid miteinander verbunden und steckt euch eure Smartphones in den Hintern“, lautet die unmissverständliche Botschaft des deklarierten Gegners von Handys bei Konzerten. Die oberlehrerhafte Theatralik ist etwas anstrengend, allerdings ist ein abendfüllender Live-Gig ganz ohne Bildschirme und unnötig aufgedrehter Handylichter von einer besonderen Magie durchzogen, die jüngere Generationen unter den Anwesenden gar nicht erst kennen.

Band-Jungspund Justin Chancellor ist nicht einfach nur Bassist, sondern das Rückgrat des kalifornischen Klang-Fundaments. (Bild: Andreas Graf)
Band-Jungspund Justin Chancellor ist nicht einfach nur Bassist, sondern das Rückgrat des kalifornischen Klang-Fundaments.

Rollen sind klar verteilt
Während das Wiener Publikum ungewohnt artig den Drohungen folgt, spulen die Amerikaner schon im ersten Showdrittel einen Auftritt der Superlative ab. Der Titeltrack des aktuellen Albums „Fear Inoculum“ und das ausufernde „Rosetta Stoned“ ziehen sich zur Überlänge hinaus, während das darauffolgende „Pneuma“ mit einer speziellen Art von dissonanter und Klang-Eingängigkeit sofort zu fesseln weiß. Die Rollen auf der Bühne sind klar verteilt. Wunder-Drummer Danny Carey treibt punktgenau auf einem üppigen Kit den Rhythmus und spielt auch mal an Synthesizern und Sequenzern herum. Gitarrist Adam Jones soliert cool mit Sonnenbrille, während Bassist Justin Chancellor für die polternde Tiefe zuständig ist. Keenan selbst ist mit Irokesenschnitt und Schminke eine Mischung aus Horrorclown und Till Lindemann und versteckt sich wie gewohnt durchgehend am hinteren Bühnenpodest.

Die monströse Video-Leinwand zog die rund 10.000 Besucher in der Wiener Stadthalle von Beginn an in ihren Bann. (Bild: Andreas Graf)
Die monströse Video-Leinwand zog die rund 10.000 Besucher in der Wiener Stadthalle von Beginn an in ihren Bann.

Ist sein physischer Abstand gewiss geplant, wirkt der stimmliche für sehr lange Zeit einfach schlecht austariert. Keenans Gesang ist bis zum treibenden und brettharten „The Grudge“ in der späten Mitte des Sets zu stark in den Hintergrund gemischt, während die Instrumentalfraktion den besten Stadthallen-Sound seit langer Zeit erwischt. Die schiere Wucht von Kompositionen wie dem ungewohnt knackigen „Intolerance“ oder dem legendär-eindringlichen „Schism“ pustet die Ohren durch, für das visuelle Vergnügen sorgt eine überdimensionale, die komplette Bühne einnehmende Videowall, auf der Tool zwischen extraterrestrischen Videos und psychedelisch, lavastromartigen Visuals mäandern und eine Sogwirkung entfachen, die sich mit den ständig wechselnden, permanent Haken schlagenden Soundkaskaden perfekt vereint. Seit mehr als 30 Jahren ignorieren Tool beständig Erwartungshaltungen und exerzieren diese Charaktereigenschaft bis zur Perfektion.

Ein bisschen Horrorclown, ein bisschen Till Lindemann: Maynard James Kennan mag es, wenn es gegen gängige Normen geht. (Bild: Andreas Graf)
Ein bisschen Horrorclown, ein bisschen Till Lindemann: Maynard James Kennan mag es, wenn es gegen gängige Normen geht.

In einer eigenen Liga
Neben all der kantigen und rigorosen Regeln (es wurde etwa appelliert, in „passender Kleidung“ zu kommen) bestehen Tool aber auch aus Humor und Selbstironie. Nach zwei Drittel des 140 Minuten langen Sets gibt es etwa eine mit Stoppuhr abgezählte Zwölf-Minuten-Pause, am Ende entlässt man das Publikum mit ABBAs Partyhit „Dancing Queen“ in die aufgetrocknete Frühlingsnacht. Dazwischen meldet sich Carey mit einem Drumsolo zurück, dass er in einem körperbetonten und leuchtenden Bodysuit zelebriert, der Alex Greys 1980 gemaltes Bild „Psychic Energy Systems“ nachempfunden ist – Grey ist bekanntlich für die Artworks der Tool-Alben „Lateralus“ und „10,000 Days“ verantwortlich. Beim Abschlusssong „Stinkfist“ darf auch ganz legal fotografiert und gefilmt werden. Allen kommerziellen und menschlichen Eigenwilligkeiten zum Trotz – die Prog-Metal-Könige spielen in einer eigenen Liga und verschieben weiterhin die Grenzen des scheinbar Möglichen.

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