Thy Art Is Murder, Wargasm, Machine Head oder Parkway Drive – am zweiten Tag des Nova Rock gaben sich die Brachialkapellen die Klinke in die Hand. Auf der Red Stage ging es lockerer zu. U.a. ritterten AUT Of ORDA, die Fäaschtbänkler und Folkshilfe um die Gunst des Publikums.
Einhorn-Kostüme, lebende Hot Dogs, gekrönte Königinnen oder aufgeklebte Riesen-Hintern – die Verkleidungskunst kennt auch bei der 18. Auflage des Nova Rocks keine Grenzen. Als Standort für seichte Späße sind die Pannonia Fields im burgenländischen Nickelsdorf, auch Eldorado des Eskapismus genannt, immer zu haben. So wie die Line-ups sich Jahr für Jahr wiederholen, haben auch die Gewänder und Masken wenig Antrieb, sich zu verändern oder mit der Zeit zu gehen. Darin liegt aber auch ein markanter Teil der Magie dieses Festivals.
Für die Besucher unterschiedlicher Generationen dient es als konstanter Ankerpunkt, um sich in die eigene Jugend zurückzubeamen oder sich sorglos aus der harschen Realität zu klinken. Die einen illuminieren sich bis zum Erbrechen, die anderen pflegen eine persönliche Form des Cosplay oder packen ihre auseinanderfallenden Metalkutten aus, um mit gespreizter Fingerhaltung mehr der vergänglichen Adoleszenz, als dem Gehörnten selbst zu huldigen.
Gnadenloses Aufwachprogramm
Am zweiten Nova-Tag bessert sich das Wetter deutlich. Die meiste Zeit sind die Temperaturen angenehm, ein leichtes Lüftchen zieht über die Steppe und am späteren Nachmittag scheint die Sonne in vollem Glanz – ein erster Vorgeschmack auf den Samstag, der so richtig sommerlich ausfallen soll. Die Witterungsbedingungen sind aber nicht der Grund, dass Wargasm-Frontfrau Milkie Way mit dürftiger Bekleidung den Reigen auf der Blue Stage eröffnet. Gemeinsam mit Partner Sam Matlock, Sohn der Sex-Pistols-Legende Glen Matlock, liefern die Londoner mit einer Mischung aus The Prodigy, Slipknot und Electropunk-Zitaten gleich eine Vorstellung ab, die als Maßstab für alles Folgende dient. Den vergrößerten Bühnensteg nützt man ebenso wie ein Bad in der Fan-Menge – und jene, denen die lange Nacht im Publikum noch ins Gesicht geschrieben steht, werden ruppig wach gebeutelt.
Überhaupt ist der Härtegrad des diesjährigen Festivals gewaltig nach oben geschraubt. Vor allem die Blue Stage zeigte sich noch selten so brachial wie heuer. Nach dem mittelalterlichen Mummenschanz von Feuerschwanz sorgt das französische Kollektiv von Igorrr für eine originäre Mixtur aus harschem Death Metal, Elektronik, Alternative Rock und stimmlichen Opern-Einlagen von Sopranistin Marthe Alexandre. Während sie im roten Kleid über die Bühne fegt, entscheidet sich Sänger JB Le Bail für offenes Haupthaar und eine rot-schwarze Gesichts- und Körperbemalung. Seine Growls feuern aggressiv und kompromisslos über das Gelände, während Mastermind, Bandgründer und Songwriter Gautier Serre im Hintergrund unauffällig, aber genial das Klangfundament bildet. So in etwa könnte die Zukunft des Metal klingen – es gibt eben doch immer noch neue Ansätze, man muss sich nur bemühen, sie auch zu finden. Igorrr sind ein echtes Highlight dieses Festivaljahres.
Eintöniges Geballer
Die australische Deathcore-Combo Thy Art Is Murder hingegen ballert eher unaufgeregt und stumpf durchs Gebälk, schafft es bei all der dargebotenen Brutalität aber nicht, einen Spannungsbogen zu entfachen. Dabei bemüht sich Frontmann Tyler Miller nach Kräften. Er ersetzte erst im Herbst 2023 den geschassten Vorgänger CJ McMahon, der sich mit Anti-Trans-Kommentaren ins Aus schoss, worauf auch die Gesangsspuren des aktuellen Albums „Godlike“ noch einmal neu aufgenommen wurden. „Festivals sind anstrengend, aber wir lieben sie, weil wir damit immer wieder neues Publikum erreichen“, erzählt uns Marsh davor im „Krone“-Interview. Mit dem ehemaligen Sänger hat man endgültig gebrochen. „Es gibt keinen Kontakt mehr, die Sache ist erledigt.“ Die knappe Stunde Blastbeat- und Breakdown-Geballer funktioniert vielleicht thematisch in der Halle, nicht aber als Anheizer am Vorabend des größten Festivals des Landes.
Währenddessen liefern die einheimischen Stilverweigerer Folkshilfe auf der bis dorthin eher dünn besetzten Red Stage einen Auftritt mit Ausrufezeichen. Zu Flo Ritt und Co. versammeln sich erstmals Massen und die Band beweist mit einem energiegeladenen Gig eindrucksvoll, warum sie sich inhaltlich schwer kategorisieren lässt, doch gerade deshalb die Herzen der Massen zu gewinnen weiß. Ein paar sympathisch-relevante Ansagen, viel Spielfreude, die markante Quetschn und Sonne – was will man mehr? Auf der Blue Stage dreht sich die Aggressionsspirale derweil munter weiter. Die Groove-Thrash-Legenden Machine Head sind besetzungstechnisch ein Schatten ihrer selbst. Frontmann Rob Flynn setzt ausschließlich auf unbekannte Mietmusiker, baut aber erfolgreich auf seine eigene Legende und das prollige Charisma, das sich bei Klassikern wie „Imperium“, „Ten Ton Hammer“ oder natürlich „Halo“ seinen Weg bahnt. Hier wird natürlich geklotzt und nicht gekleckert, aber die große Show beherrschen die Amerikaner noch immer einwandfrei – und Flynn selbst eine Naturgewalt.
Fragwürdig und entbehrlich
Weniger prunkvoll geht der Auftritt von Yaenniver aka Jennifer Weist über die Bühne. Vor einer Handvoll Hartgesottener sorgt sie in einem skurrilen 80er-Jahre-Anzug für die poppige Note des Festivals und fühlt sich beim schmalen, aber freudigen Zuspruch durchaus gut aufgehoben. Das letzte Stelldichein am Nova Rock von vor neun Jahren hat sie weniger gut in Erinnerung. Damals entblößte sie zu Konzertbeginn ihre Brüste, was von den professionellen Fotografen festgehalten wurde und den Weg in die Medien fand. Die Fotografen an diesem Nachmittag bezeichnet sie wenig charmant als „Hurensöhne“, nur um sich im weiteren Verlauf des Konzerts wieder kokett an Schritt und Brust zu fassen. Die erzwungene Fokussierung auf ihre primären und sekundären Geschlechtsteile nimmt dem Konzert viel Drive. Auch das Songmaterial ist qualitativ meilenweit von den Jennifer Rostock-Liedern der alten Tage entfernt. Midlife-Crisis, Geltungsbedürfnis oder schräger Narzissmus? Man weiß es nicht. Als Zukunftstipp empfiehlt sich prinzipiell: Let The Music Do The Talking.
Der Hype um die via Social Media explodierten Schweizer Fäaschtbänkler hat längst auch Österreich erreicht. Gefühlt spielt das Kollektiv aus dem ruralen Kriessern in St. Gallen alle drei Monate ein Konzert, nach 2022 ziehen sie mit ihrer „Neuen Volksmusik“ schon ein zweites Mal über die Pannonia Fields. Das bedeutet in der Praxis: Eine Mischung aus Blasmusik, Volksmusik, billigen Ballermann-Versatzstücken und Bühnengehopse, das einem Festival als idealer Stimmungsaufheller dient, aber dahinter wenig Substanz besitzt. Die Bierzeltatmosphäre bringt von Anfang an Stimmung übers Gelände und erfreut vor allem jene Fans, die auch bei den Mittelalter-Rockern Feuerschwanz jubilierten. Nova Rock, Blasmusikfestival oder doch Schlagergarten Gloria? Man weiß es nicht genau. Die heimlichen Headliner auf der Blue Stage sind die Australier Parkway Drive, die schon letztes Jahr für Begeisterung sorgten und ihre Show nur marginal adaptieren.
Pyro- und Videoeffekte
Das Wichtigste: Es gibt noch mehr Feuer, noch mehr Explosionen, noch mehr Krach. Während die Songs von Thy Art Is Murder an einer durchgängigen Gleichförmigkeit leiden, überzeugen Parkway Drive neben ihren eingängigen Breakdowns mit Melodien der schwedischen Death-Metal-Schule und immenser Spielfreude, die sich nicht hinter offen zur Schau gestellter Coolness versteckt. Frontmann Winston McCall hat seine Stimmprobleme der letzten Tage gut im Griff und liefert souverän ab. Am Ende brennt es natürlich wieder lichterloh – die Fans sind begeistert. Avenged Sevenfold, die ihre erste Headliner-Show seit sechs Jahren abliefern, verzichten ganz auf Pyrotechnik und setzen dafür vermehrt auf digitale Videoeffekte. Frontmann M. Shadows kämpft zuweilen mit Stimmproblemen und Songs wie „Game Over“ oder „Mattel“ vom aktuellen Album „Life Is But A Dream…“ wirken zuweilen sperrig, sind aber gerade deshalb spannend.
Gitarrist Synyster Gates legt ein Parade-Solo nach dem anderen aufs Parkett, während Kompagnon Zacky Vengeance den Grundrhythmus im Auge behält. Für den größten Jubel sorgen natürlich Klassiker wie „Bat Country“ oder „Nightmare“, die zweifellos eine andere Art der Massentauglichkeit an den Tag legen als das progressive neuere Material. Avenged Sevenfold klingen frisch, anders und zuweilen etwas schwer zugänglich – und das ist beim Einheitsbrei im Metal als Kompliment zu sehen. Nur zwei Tage nach ihrem Stelldichein in der Simm City stellt sich die heimische All-Star-Band AUT Of ORDA nun erstmals auf einer großen Open-Air-Bühne vor. Christopher Seiler, Paul Pizzera und Daniel Fellner wissen die mit erweiterter Band und einer Mischung aus gefühlt 122 Musikstilen gut zu nützen. Für das Festival-Setting passen Cover-Versionen von Rage Against The Machine oder Linkin Park mit „eingewienerten“ Texten natürlich perfekt – vor allem, wenn man den Fäaschtbänklern folgt.
Ein bisschen mehr Richtung bitte
Zwischen Dancehall, Reggae und Pop mäandern die zumeist von Fellner inszenierten Songs, bei denen die beiden Sänger in Sportdressen und mit viel Agilität die sprichwörtliche Sau hinauslassen. Grenzen gibt es dabei keine. Es wird politkritisch („Life’s A Party“), passt zur startenden Fußball-EM („Hoch gwimmas (n)imma“) oder beruft sich auf Probleme mit Depressionen („Nebel“). Darin steckt auch die Krux dieses Abends. Wer eine hedonistische Party zelebriert, bei dem gehen die ernsten Themen unweigerlich unter. Zu einer lässigen Funk-Gitarre und einem Cover des Bomfunk-MCs-Klassikers „Freestyler“ passen aufbauende Botschaften zu existenziellen Nöten nur bedingt – vor allem dann, wenn die Fans sich eine knappe Woche lang von solchen Problemen lösen wollen. Musikalische Grenzenlosigkeit ist schön, aber gewisse Anlässe benötigen eine gewisse Richtung.
Der traditionelle Late-Night-Act des Festivals kommt aus dem Friesenland und feiert im Juli seinen 75. Geburtstag. Der unermüdliche Otto Waalkes ist auch im höheren Alter von einer beneidenswerten Jugendlichkeit durchsetzt, die sich nicht nur im verschmitzten Lächeln und dem bekannten Kapperl niederschlägt, sondern auch in einer mehr als einstündigen Komik-Konzertshow, die aus eigenen Klassikern, Medleys und humorigen Cover-Versionen von „Schifoan“ bis hin zu „Griechischer Wein“ besteht.
Mit seinen musikalisch versierten, gerne auch mal in jazzige Gefilde rutschenden Friesenjungs gleitet er manchmal ins Wienerische, während die kultigen Ottifanten ihn auf den Leinwänden flankieren. Dass man an einem Festivaltag Acts wie Thy Art Is Murder, Folkshilfe und Otto Waalkes gleichermaßen programmieren kann, ist ein markantes und beliebtes Merkmal des Nova Rock. Weiterhin heißt es, keine Müdigkeit vorzutäuschen. Heute geht es mit Måneskin, Avril Lavigne, Alice Cooper, Body Count ft. Ice-T oder Sum 41 auf ihrer Abschiedstour munter weiter.
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