Neues Album „Loom“

Imagine Dragons: Seelenheil nahe dem Nullmeridian

Musik
29.06.2024 09:00

Nach einem üppigen Doppel-Konzeptalbum mit seiner Band Imagine Dragons und der bitteren Scheidung von seiner Frau musste sich Frontmann Dan Reynolds erst wieder finden. So unentschlossen und vage wie sein Leben klingt auch das sechste Dragons-Studioalbum „Loom“. Dem Massenerfolg wird es keinen Abbruch tun.

(Bild: kmm)

Sich als Musiker oder Künstler auszustellen, bedingt per se eine kräftige Portion Narzissmus. Nun haben manche mehr, manche weniger davon, andere wiederum eine ganze Wagenladung, die paradoxerweise oft mit einer ständigen Unsicherheit korreliert. Dan Reynolds, hauptamtlich Frontmann der immer erfolgreicher werdenden Imagine Dragons, nebenberuflich öffentlicher Seelensorgenausspeier, gehört zu dieser gar nicht so seltenen Gattung Typ, die bedauernswerterweise mit schlimmen psychischen Problemen zu kämpfen haben, aber jedes Detail ihres Lebens – ob sichtbar oder unsichtbar – nur allzu gerne in die Öffentlichkeit tragen. Darauf reagieren Menschen für gewöhnlich zweierlei. Die einen hängen an den Lippen ihres Helden, agieren als Konzertticket- und Spotify-Song-Käufer wie ein mentales Pflaster und wünschen Linderung aus der globalen Ferne. Andere wiederum wünschen sich die verwinkelten und mysteriösen Prä-Internet-Zeiten zurück, als noch nicht jeder Ehezwist breitenwirksam als Instagram-Story für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.

Am modernen Pop-Thron
Reynolds persönliches Befinden könnte man freilich unkommentiert lassen, würde es nicht parallel zu seiner Kunst stehen. Die Imagine Dragons, zuletzt vor fast genau zwei Jahren vor rund 40.000 Fans im Wiener Happel-Stadion zu Gast, haben sich über die letzten Jahre zu einer der größten Pop-Bands der Welt hochgespielt. Das Kollektiv aus Las Vegas hat laut aktueller Zählweise rund 74 Millionen Tonträger verkauft und vereint mehr als 160 Milliarden Streamingzugriffe auf Spotify. Die vier Hauptsingles „Radioactive“, „Believer“, „Thunder“ und „Demons“ haben zusammengerechnet 52 Platinauszeichnungen abgeräumt, von den vollgefüllten Arenen und Stadien zwischen Dallas und Neu-Delhi gar nicht zu reden. Während der Pandemie zimmerte man mit Rauschebart-Starproduzent Rick Rubin das Doppelalbum „Mercury“ (also „Act 1“ und „Act 2“) ein und wurde endgültig zu Coldplay für eine jüngere Generation. Parallelen dafür gibt es zuhauf zu entdecken.

Beide Bands werden mit Fortdauer ihrer Karriere musikalisch immer beliebiger, dafür im Mainstream erfolgreicher. Die Frontmänner Reynolds und Chris Martin von Coldplay stellen sich, ihre Sorgen und Ehekrisen mehr oder weniger gerne in die Auslage. Beide Bands tun immens viel für karitative und soziale Einrichtungen, wirken mit ihrer Omnipräsenz auf derartigen Parketten aber auch leidlich bemüht und anbiedernd (frag nach bei Bono). Und schlussendlich haben beide Acts musikalisch längst den irdischen Kosmos verlassen. Während Coldplay die Vielseitigkeit des Mondes samt extraterrestrischer Interessensgewinnung für sich entdeckt haben, probieren die Imagine Dragons es auf ihrem brandneuen sechsten Studioalbum „Loom“ mit der Sonne. Ob die am vielseitig interpretierbaren Cover-Artwork auf- oder untergeht ist ebensowenig zu beantworten, wie die Distanz zwischen den beiden Menschen darauf.

Familienkrise als roter Faden
„Ist es der Beginn von etwas Neuem, oder das Ende von etwas anderem? Immer, wenn ich Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge sehe, spüre ich dieses ,Entweder/Oder‘-Gefühl“, erzählte Reynolds amerikanischen Medien in einem seiner mittlerweile raren Interviews. Den privaten Sonnenuntergang erlitt er nur drei Monate nach seinem Tourstopp in Wien 2022. Ehefrau Aja Volkman und er trennten sich endgültig, im März 2024 wurde die Scheidung vollzogen, die schon 2018 knapp vor der Tür stand. Genau zu dieser Zeit verwandelte sich Reynolds vom schüchternen Indie-Sänger zum überkompensierenden Muskelprotz, der weder seine familiären Probleme, noch seine Mormonen-Haltung für sich behalten wollte. Dementsprechend lässt sich die Ehekrise auf „Loom“ nicht verbergen. Während das sonnige „Nice To Meet You“ nach Aufbruch und Neubeginn erinnert, gräbt Reynolds bei „In Your Corner“ und „Don’t Forget Me“ mit der vielsagenden Textzeile „guess wie got lost in the light“ tief im persönlichen Spaltbereich zwischen Familie und Rampenlicht.

Die am Artwork angedeutete Unschlüssigkeit zieht sich auch durch die Songs. Der Opener „Wake Up“ geht mit Hip-Hop-Referenzen geradeaus nach vorne, das sommerliche „Take Me To The Beach“ hingegen ist eine sommerliche Dancehall-Pop-Nummer. Im stark an die Gorillaz erinnernden „Kid“ gibt sich Reynolds selbst den Tipp, die verworrenen Dinge im Leben gefälligst wieder in Ordnung zu bringen. Anstatt auf Rubin vertrauten die Imagine Dragons bei „Loom“ wieder auf das bereits etablierte schwedische Produzenten-Duo Mattman & Robin, das dem Album mehr Luft und Leichtigkeit verschafft, die den Texten aufgrund Reynolds‘ Seelenachterbahnfahrten oft fehlen. Die Vorbereitungsarbeiten hat man gleich außen vor gelassen, um möglichst unbedarft ans Werk zu gehen. Die Single „Eyes Closed“ etwa klingt dermaßen schablonenhaft nach der eigenen Vergangenheit, dass man sich in der Strophe eigentlich selbst Tantiemen zahlen müsste.

Im mediokren Nullmeridian
Wie in der Musikhistorie schon oft erlebt, versuchen nun auch die Imagine Dragons nach einem üppigen Konzeptdoppelwerk wieder den Minimalismus heraufzubeschwören. „Loom“ geht ohne den Bonustrack mit Dancehall-Stark J Balvin in nicht einmal einer halben Stunde über die Ziellinie und zitiert in dieser Zeit alles, was die Band in den letzten zwölf Jahren zu einer der größten der Welt gemacht hat. Was dabei auf der Strecke bleibt, sind Spannungsmomente, der Mut zur Veränderung oder der Ansporn, sich trotz aller inneren Nöte auch einmal aus dem Kokon des ewig gleichen Wiederkäuens von Inhalten zu befreien. Man darf nach der von Ende August bis tief in den Oktober andauernden Riesentour in Nordamerika damit rechnen, dass die Band sich 2025 wieder bei uns blicken lässt. Reynolds wird wieder predigen, inkludieren und im Konfettischnee zur Geistesheilung tanzen. Man wünsche dem Mann baldige Besserung, dann verlässt vielleicht auch die Musik wieder den mediokren Nullmeridian.

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